HomeOpen SourceZwischen Traumata und Träumen: Kambodscha und der lange Schatten der Roten Khmer Zwischen Traumata und Träumen: Kambodscha und der lange Schatten der Roten Khmer Im April 1975 übernahmen die Roten Khmer die Macht in Kambodscha. Die Nachwirkungen ihres Terrors sind noch spürbar. Bei allen Problemen gibt es aber Hoffnung – auch im Sport.Ronny Blaschke16.04.2025 20:06 UhrKämpfer der Roten Khmer, 1975dpaDies ist ein Open-Source-Beitrag. Der Berliner Verlag gibt allen Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten.Die Schädel der Opfer türmen sich fast bis zur Decke des Raumes auf. Daneben sind in Vitrinen Folterinstrumente ausgestellt, eine Axt, eine verrostete Säge, Fußfesseln. Vergilbte Fotos zeigen erschöpfte Frauen und Männer, denen die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben ist. Und auch alte Gefängniszellen sind erhalten. Rissige Wände, so dicht beieinander, dass man darin nur gekrümmt liegen konnte.Es ist der wichtigste Erinnerungsort in der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh: das Tuol-Sleng-Genozid-Museum. Eine frühere Schule, die von den Roten Khmer in ein Gefängnis umgewandelt wurde, wo mindestens 14.000 Menschen gewaltsam zu Tode kamen.Das Museum ist stets gut besucht, doch in diesen Wochen ist das Interesse besonders groß. Am 17. April 1975, vor genau 50 Jahren, übernahmen die Roten Khmer in Kambodscha die Macht. Bis zum Ende ihrer Herrschaft 1979 fielen ihr wohl rund zwei Millionen Menschen zum Opfer, etwa ein Fünftel der Bevölkerung. Die Nachwirkungen dieser Terrorherrschaft sind bis heute spürbar.Gegen das Vergessen: Das Tuol-Sleng-Genozid-Museum in Phnom PenhDepositphotos/Imago Einigen Besuchern schießen Tränen in die Augen Das Tuol-Sleng-Genozid-Museum setzt sich aus mehrstöckigen Flachbauten zusammen, die einen gepflegten Garten mit mächtigen Palmen umranden. Besucher, die von den drastischen Inhalten der Ausstellung eine Pause benötigen, nehmen auf Bänken Platz und fächern sich in der Hitze ein wenig Luft zu. Einigen von ihnen schießen Tränen in die Augen.Die Roten Khmer wollten im südostasiatischen Kambodscha einen Agrarkommunismus einführen. Sie vertrieben die Bevölkerung aus den Städten fast vollständig aufs Land. „Von einem Moment auf den nächsten hat sich für die Menschen alles verändert“, sagt der Unternehmer Tep Rithivit, der sich für eine Aufarbeitung einsetzt: „Die Menschen mussten ihren Besitz hinter sich lassen, manchmal auch ihre Kinder.“Tep Rithivit spricht ein geschliffenes Englisch. Man hört ihm an, dass er viele Jahre in Nordamerika verbracht hat. Als die Roten Khmer an die Macht kamen, war Rithivit ein Kind. Sein Vater zählte in den 1970er-Jahren zu den besten Tennisspielern des Landes. Aber in der Vorstellung der Roten Khmer habe Sport als bürgerlich und kapitalistisch gegolten, sagt Rithivit: „Die Roten Khmer betrachten gebildete, intelligente Menschen als Staatsfeinde. Sie hatten es auch auf gute Sportler abgesehen, denn Sportler reisten durch die Welt und kamen mit westlichen Kulturen in Berührung.“„Weird Girl Fiction“ – Moderner Feminismus oder problematischer TikTok-Trend?Open Source13.04.2025Eigenbedarfskündigung: „Man hat uns ein Stück unseres Lebens und unserer Identität genommen“Open Source12.04.2025 Empfang für Charles de Gaulle Die Roten Khmer verbrannten Bücher, verboten Religionsausübung, schafften Geld und Privateigentum ab. Sie ermordeten Lehrer, Kaufleute und Ärzte. Fotografien im Tuol-Sleng-Museum erinnern an Verwüstungen in Phnom Penh, an zerstörte Pagoden, Schulen, Kinos. Tep Rithivit sagt, dass Gefangene auch auf Sportplätzen zusammengetrieben und hingerichtet wurden. Die Roten Khmer warfen Leichen ins zentrale Schwimmbecken.Zwangsarbeit auf dem Land während des Regimes der Roten KhmerPond5 Images/imagoDieses Schwimmbecken befindet sich am Olympiastadion im Zentrum von Phnom Penh. Ein Prestigebau, eröffnet 1964, der den wirtschaftlichen Aufbruch Kambodschas verdeutlichen sollte. 1966 empfing die kambodschanische Regierung im Olympiastadion Charles de Gaulle, den Präsidenten der alten Kolonialmacht Frankreich, die Kambodscha einst kontrolliert hatte.Auf den Tribünen wurden Fähnchen in den französischen Nationalfarben geschwenkt. Aufsteigende Luftballons, Friedenstauben, dazu die Botschaft „Vive le Général“. De Gaulle wurde im Cabrio um das Spielfeld gefahren, die Menschen jubelten.Wenige Jahre später nutzten die Roten Khmer das Olympiastadion für andere Zwecke. Eine der wenigen Filmaufnahmen von 1975 zeigt, wie die Führungskräfte um Pol Pot das Stadion betreten, begleitet von Applaus und bewaffneten Soldaten. Auf den Tribünen und auf dem Spielfeld sitzen Tausende Frauen und Männer in dunkler Einheitskleidung. Viele wirken erschöpft, einige verängstigt.Das Olympiastadion in Phnom Penhrobertharding/Imago Schulen dienten als Internierungslager Die Kamera fährt in der ersten Reihe an den Gesichtern der Parteikader vorbei. Sie tragen rot-weiß karierte Halstücher, bekannt als Krama. Vor ihnen wird auf einer kleinen Bühne kommunistische Propaganda aufgeführt. Lange Reden, Tanzeinlagen, Bilder von Stalin und Marx. Pol Pot und seine Mitstreiter lächeln.Was nicht zu sehen ist: Nur wenige Tage nach diesen Filmaufnahmen wurden auch auf dem Gelände des Olympiastadions Gefangene hingerichtet. „Beliebte Orte des Alltags wurden von den Roten Khmer zweckentfremdet“, sagt der kambodschanische Historiker Keo Duong. Pagoden und Schulen, die nicht verwüstet wurden, dienten als Internierungslager, das Stadion als politischer Versammlungsort.Pol Pot, politischer und militärischer Führer der Roten KhmerUnited Archives International/imagoDie Roten Khmer schlossen Industriebetriebe, Banken oder Krankenhäuser. Sie konzentrierten sich auf die Landwirtschaft. Auf den Reisfeldern mussten Menschen mehr als zwölf Stunden am Tag arbeiten. „Mein Vater war damals 13 Jahre alt“, erzählt Keo Duong. „Er spielte gern mit Freunden Fußball. Die Soldaten liefen durch die Dörfer und verboten jede Form der Unterhaltung, auch Sport. Sie lehnten es ab, dass man für Training und Spiele Zeit aufbringt. Sie wollten, dass die Menschen nur noch arbeiten.“ Gewalterlebnisse blieben ohne Aufarbeitung Die Nahrungsmittel waren knapp, die medizinische Versorgung unzureichend. Arbeiter wurden dazu ermutigt, andere zu denunzieren. Familienmitglieder wurden getrennt, um ihre Verbundenheit zu brechen. Hunderttausende starben an Krankheiten und Erschöpfung.1979 marschierte das vietnamesische Militär in Kambodscha ein und beendete den Terror. Pol Pot und seine engsten Mitstreiter galten fortan als „verrückte, kleine Clique“, und nicht mehr als Massenbewegung. Und so konnten sich etliche Führungskräfte der Roten Khmer in einflussreichen Positionen halten, erläutert der Südostasien-Forscher Daniel Bultmann von der Humboldt-Universität in Berlin.Es folgten Gerichtsprozesse. Und über die Jahre wurden einige Erinnerungsorte eingerichtet, etwa das Tuol-Sleng-Museum oder Informationstafeln auf den sogenannten Killing Fields. Und doch blieben Gewalterlebnisse in Familien – Vergewaltigungen oder Zwangsheiraten – oft ohne Aufarbeitung. „Gerade im ländlichen Raum lebten Opfer und Täter oft nebeneinander“, sagt Heike Löschmann, Leiterin der Heinrich-Böll-Stiftung in Phnom Penh. Das Angebot für psychologische Betreuung wuchs nur langsam.Kambodschanische Flüchtlinge, die von den vietnamesischen Behörden rekrutiert werden, um eine Anti-Khmer-Rouge-Truppe zu bilden, ca. 1978.CPA Media/imago Traumata auf nächste Generation übertragen Studien legen nahe, dass sich Traumata in Kambodscha auf die nächste Generation übertragen haben. Die Folgen für die Gesellschaft: mitunter eine höhere Gewaltbereitschaft, auch Misstrauen und mangelnde Kompromissfähigkeit. Viele Kambodschaner im buddhistisch geprägten Südostasien glauben, dass die Roten Khmer sie kollektiv bestrafen wollten, womöglich für Sünden aus einem früheren Leben.Doch es gibt Hoffnungszeichen. Der Unternehmer Tep Rithivit, der als Kind mit seiner Familie nach Kanada geflohen war, kehrte 1995 in sein Geburtsland zurück. Er suchte die alten Tennispartner seines Vaters, doch fast alle waren tot.Rithivit fand einen früheren Mitspieler, der überlebte. Yi Sarun hatte sich gegenüber den Roten Khmer als Bauer ausgegeben. Seine Haut war vergleichsweise dunkel, und so nahmen sie an, dass er auf den Feldern arbeitete. Yi Sarun versteckte seine Tennispokale und verbrannte seinen Personalausweis.Tep Rithivit übernahm als Generalsekretär den kambodschanischen Tennisverband. Er investierte Privatgeld in die Förderung von Talenten und in Trainingsplätze. Er setzte sich dafür ein, dass auch in Kambodscha wieder Turniere stattfinden. Und er suchte im Ausland nach Kindern oder Enkelkindern von ausgewanderten Kambodschanern, nach potenziellen Aufbauhelfern für den Sport. „Dieses Land hat so viel Potenzial“, sagt Rithivit. „Wir sollten Anlässe für positive Geschichten schaffen.“Aus dem Leben eines Obdachlosen: „Eine Flasche Korn am Tag – pur, als wäre es Wasser“Open Source10.04.2025„Die Tesla-Files“ – das Buch über Elon Musk: „In Grünheide herrscht die pure Angst“Open Source08.04.2025 Hohe Kindersterblichkeit 50 Jahre nach dem Putsch der Roten Khmer wächst die Volkswirtschaft Kambodschas rasant. Im Zentrum von Phnom Penh entstehen neue Hotels und Firmenzentralen. Ein neuer Flughafen soll den wachsenden Tourismus stützen. Aber: Die soziale Ungleichheit bleibt groß. Die Kindersterblichkeit liegt weit über dem asiatischen Durchschnitt, der Alphabetisierungsgrad darunter.Erinnerungen an eine traumatische Vergangenheit: Knochen aus Massengräbern in Tonle Bati, südlich von Phnom PenhAGB Photo/imagoMan kann sich davon im Südwesten von Phnom Penh ein Bild machen, in einem der ärmeren Stadtteile. Straßen mit Schlaglöchern werden von provisorischen Bauten gesäumt. Schon aus der Ferne sind Dutzende Kinderstimmen zu hören. In einem Schulkomplex kümmert sich die Indochina Starfish Foundation, die ISF, um benachteiligte Kinder. Es ist eine von Hunderten NGOs im Land.Die junge Sozialarbeiterin Nov Sreynet lädt zu einem Rundgang über das Gelände ein. Sie winkt freundlich in die Klassenzimmer und zeigt stolz auf den kleinen Bolzplatz im Innenhof. Die ISF nutzt Fußball als Plattform für Bildung, Suchtbekämpfung und Persönlichkeitsentwicklung. „Mit einer besseren Bildung können unsere Teilnehmer leichter einen Job finden“, sagt Nov Sreynet. „Und mit einem Job können sie ihren Familien helfen.“Nov Sreynet ist selbst in schwierigen Verhältnissen aufgewachsen. Und sie hat bei sich eine Entwicklung beobachtet, die sie auch bei anderen Teilnehmern erkennt: „Wenn sie zu uns kommen, sind sie am Anfang schüchtern und kommunizieren kaum. Doch sie öffnen sich mit der Zeit. Sie werden selbstbewusster und empathischer. Und das übertragen sie auf ihre Familien.“Die meisten Schüler spielen Fußball aus Spaß, doch einige hoffen auf eine große Karriere, vielleicht auf Spiele im Olympiastadion. Die Arena im Zentrum von Phnom Penh wurde seit der Herrschaft der Roten Khmer mehrfach saniert. An jedem Abend joggen Dutzende Bewohner um das Stadion herum. Andere machen Gymnastik oder sitzen auf einer Bank. Wer nichts von den Hinrichtungen vor 50 Jahren weiß, könnte glauben, dass dieses Stadion ein gewöhnlicher Ort sei. Ein Ort, um den Alltag zu vergessen.Ronny Blaschke beleuchtet als freier Journalist vor allem Gewalt und Menschenfeindlichkeit im Sport, aber nicht nur das, wie dieser Text zeigt. Er ist regelmäßig für den Deutschlandfunk, die Deutsche Welle, die Süddeutsche Zeitung oder Zeit Online tätig.Das ist ein Beitrag, der im Rahmen unserer Open-Source-Initiative eingereicht wurde. Mit Open Source gibt der Berliner Verlag allen Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten. Ausgewählte Beiträge werden veröffentlicht und honoriert. Lesen Sie mehr zum Thema Open SourceInternationalesAuslandBerlinKulturAusstellungen in BerlinFrankreichSportGesundheit & WohlbefindenBildung