HomeUwe Tellkamp und Katja Hoyer in Gesprächen: In welche Richtung geht Deutschland? Uwe Tellkamp und Katja Hoyer in Gesprächen: In welche Richtung geht Deutschland? In Ettersburg bei Weimar diskutieren Uwe Tellkamp, Katja Hoyer und Simon Strauß über Wege aus der politischen Sackgasse. Die Brandmauer ist löchrig, die Nazikeule morsch. Was tun?Ingo Meyer16.02.2025 07:20 UhrUwe Tellkamp und Dr. Peter Krause diskutieren vor Publikum im Schloß Ettersburg in der Nähe von Weimar.Thomas Meyer/OstkreuzAcht Tage vor der Bundestagswahl fragen sich noch immer viele Wähler, wo auf dem Stimmzettel sie ihr Kreuz setzen sollen. Gibt es eine echte oder nur eine behauptete Alternative zur gescheiterten Ampel – oder geht es am Ende nur darum, sich vom großen ins kleinere Übel zu retten?Eine gute Möglichkeit, den Gedanken anderer Menschen zuzuhören und dadurch die eigenen zu schärfen, bieten die Ettersburger Gespräche. Im gleichnamigen Jagdschloss, zehn Kilometer nördlich von Weimar gelegen, diskutierten seit 2011 mehr als 300 Geistesgrößen aus Politik, Kultur und Gesellschaft vor und mit dem Publikum, unter ihnen Herfried Münkler, Monika Maron oder Wolfgang Thierse.An diesem Samstag gibt es gleich zwei solcher Gespräche. Um 16 Uhr steigen die Historikerin (und Kolumnistin dieser Zeitung) Katja Hoyer sowie der Romancier und FAZ-Redakteur Simon Strauß aufs Podium, 19 Uhr folgt der Schriftsteller Uwe Tellkamp.Die Historikerin und Autorin Katja Hoyer und der FAZ-Redakteur und Autor Simon Strauß posieren im Schloß Ettersburg vor ihrem Gespräch für die Berliner Zeitung.Thomas Meyer/OstkreuzKatja Hoyer: „Es gibt keine realistische Möglichkeit, eine wirklich neue Regierung zu wählen“PolitikgesternVorbild DDR: Bessere hausärztliche Betreuung verlangt veränderte Strukturen und PolitikOpen Source14.02.2025 War die DDR nie weg? Der Nachmittagstermin ist ein freundlicher. Hoyer und Strauß kennen sich, und sie teilen im Grunde dieselbe Position: Wir sind in einer Zeitenwende, und ob es besser oder schlechter wird, liegt im Nebel. Mit Blick auf die Wiederwahl Trumps bilanziert Hoyer: Während man in den USA einen kompletten Kurswechsel herbeiwählen könne, bekomme man in Deutschland stets nur eine Variante derselben Koalition. Regiert ab März womöglich eine Resteampel?Strauß bescheinigt der AfD, viele ihrer Ziele aus der Opposition heraus erzielt zu haben. Sie sei längst Teil des politischen Geschehens, „wie Bullys auf dem Schulhof, die an der Seite stehen und dennoch wirken“. Aber unsere Demokratie halte das aus. Die AfD rufe nicht zum bewaffneten Widerstand auf, „sie ist vom demokratischen System eingefasst“.Simon Strauß und Katja Hoyer während der DiskussionThomas Meyer/OstkreuzWährend Simon Strauß seine Einsichten nach eigenem Bekunden auf Exkursionen aus dem Elfenbeinturm gewann, hat Katja Hoyer einen direkteren Draht zu Ostdeutschen. Das merkt man ihren Aussagen an, die Selbsterlebtes verarbeiten, tiefer schürfen, mitfühlender sind. Mit historisch geschultem Blick bilanziert sie das jüngste Staatsversagen: Während die meisten Menschen sich nach Stabilität und Sicherheit sehnen, hat die Politik die Gesellschaft umgebaut und fordert jetzt vom Volk, ihr ins Ungewisse zu folgen. Das aber sträubt sich – und wie jetzt ersichtlich wird, mit Erfolg. Hoyer führt als Positivbeispiel die dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen an, der es gelang, ihre Sozialdemokraten wieder in die Regierung zu führen, nachdem sie zugegeben hatte: „Nicht die Wähler haben sich von uns entfernt, sondern wir uns von ihnen.“ Der emotionale Beifall im Saal zeigt, dass Hoyer mit dem Zitat eine Wunde aufreißt.Es folgen Stimmen aus dem Publikum. Ein Redner bemängelt, dass in öffentlichen Gremien wie dem ÖRR zu viele Parteimitglieder säßen. Ein anderer sagt kopfschüttelnd, Deutschland könne nicht auf jeden Krieg der Erde reagieren und solle aufhören, Wirtschaftsmigration moralisch zu bemänteln. Ein älterer Mann vergleicht die aktuelle Lage mit der Spätphase der DDR. Nur gab es damals ein leuchtendes Rollenmodell – die Bundesrepublik. Heute aber sei da: nichts.Am Ende des Gesprächs fühlt es sich ein wenig so an, als sei die DDR wiederauferstanden. Oder war sie niemals weg?Das Publikum im Gewehrsaal von Schloß EttersburgThomas Meyer/OstkreuzUwe Tellkamp: Natürlich kannst du alles sagen, musst nur die Konsequenzen tragenPolitik03.03.2023Warum sind Neu-Parteien wie die AfD so erfolgreich? Deutschland ist transformationsmüdePolitikvor 1 Std. Brandmauern und Wachtürme 19 Uhr, Auftritt Uwe Tellkamp. Hier führt der Schlossdirektor Peter Krause das Gespräch. Er hebt zunächst ab auf die Rede „Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation“ des österreichischen Dramatikers Hugo von Hofmannsthal aus dem Jahr 1927 – in der Hofmannsthal eine „konservative Revolution“ forderte, um die geistige Einheit Deutschlands und Europas wiederherzustellen – sowie dessen Drama „Der Turm“, das mit Königsmord und Revolution endet. Beide Texte sind als Steilvorlage für Tellkamp bestens geeignet. Doch was an anderen Tagen ein gediegenes Literaturgespräch hätte werden können, führt schon nach wenigen Minuten mitten hinein in die bundesdeutsche Wahlkampfwirklichkeit, eine Landschaft aus Brandmauern und Wachtürmen, Einhegungen und Ausgrenzungen.Eine Stunde lang füttert Krause den Schriftsteller mit teils überbordenden Einlassungen zur politischen Wirklichkeit. Tellkamp sitzt etwas angespannt am Tisch, trinkt ab und zu aus seinem Wasserglas. Mehrmals schaut er nach rechts, wo am Parkettrand seine achtjährige Tochter mit Spielzeug hantiert. Dann huscht jedes Mal ein Lächeln über sein Gesicht.Seine Antworten auf Krauses Gedanken indes sind bar jeder Freundlichkeit, gnadenlos sezierend, beißend sarkastisch: „Heute ist es ein revolutionärer Akt, sich zur deutschen Kultur zu bekennen“, erklärt er. Oder: „Am deutschen Klimawesen soll die Welt genesen!“ Oder: „Wir denken die Gesellschaft vom Ausnahmezustand her, nicht von der Utopie.“Solche Sätze rufen Beifallsbekundungen des Publikums hervor, das bei diesem zweiten Gespräch gediegener, nahezu bourgeois wirkt. Hellwach und fast masochistisch vergnügt verfolgt es Tellkamps Wortgewitter, das keinen Stein auf dem andern lässt. Niemand sei ja nur christdemokratisch, nur grün, nur rot. Er selber sei als Familienvater konservativ, als politischer Autor aber nicht. Wenn wir weitermachen wie bisher und jede Deutungsmacht den Nazis überlassen würden, hätten wir schon verloren. Eine Demokratie, die unbequeme Meinungen ausgrenzt, verdiene ihren Namen nicht. Geistige Freiheit sei, die Dinge nüchtern einzuschätzen und vernünftige Ideen umzusetzen, egal von wem sie kämen. „Wenn es stimmt, dass die AfD voller Nazis ist, dann lehne ich diese Partei ab. Aber stimmt das?“ Und Tellkamp zitiert Alexander Wendts bissiges Bonmot von den Deutschen, die jede Sackgasse bis zu ihrem Ende abschreiten würden. Auch die an der Brandmauer.Uwe Tellkamp und Dr. Peter KrauseThomas Meyer/Ostkreuz Ost-West: eine Scheindebatte? Eine Frage Krauses zielt auf die endlose Ost-West-Debatte. Tellkamp erinnert sich an 1990, als er sein bundesdeutsches Leben begann und sofort erkannte, hier würde er vermintes Gelände betreten. Die ostdeutsche Kultur sei bis zu diesem Zeitpunkt eine Überlebenshilfe gewesen, wegen des Festhaltens daran würden Ostdeutsche heute als Rechte beschimpft. Das DDR-Bildungssystem sei strukturierter gewesen als das westdeutsche, es sei aus der Verfasstheit der Gesellschaft entstanden, habe die klassische Kultur abgebildet in dem Bemühen, einen neuen Menschen zu erschaffen.München: Warum ich die Rede von JD Vance unterstützte•vor 9 Min.Was Trump und JD Vance mit der Ukraine vorhaben: Man könnte sie in die EU aufnehmenInternationalesgesternWomit sich die Schule heute beschäftigen möge? Mit der europäischen Vision, dem römischen Recht, in das so viel Kultur floss, mit historischen Ursache-Folge-Ketten, damit, alles zu hinterfragen, vom Spitzensteuersatz bis zu Diversitätsregeln. „Kritisches Denken ist die Grundvoraussetzung für ein demokratisches Gemeinwesen.“ Das ginge jedoch schwerlich bei der vorherrschenden „Moralisierung von allem und jedem“. Die Leute im Land hätten legitime Fragen, die viel zu lange unbeantwortet geblieben seien. Nachdrücklich fordert Tellkamp einen Interessenausgleich zwischen allen gesellschaftlichen Kräften und zeigt dabei keinerlei Berührungsängste. Gewiss, Putin sei ein Verbrecher, aber der sitze auf einem Berg billiger Energie. Dürfe man denn nur mit netten Menschen verhandeln?Das Schloß EttersburgThomas Meyer/Ostkreuz Eine Riesenwut im Bauch Wahrlich: Tellkamps Deutschlandbild ist rabenschwarz. Und der Dresdner kommt nach einer halben Stunde erst richtig in Fahrt. Zum Abwandern ganzer Industrien erklärt er: Kreativität gedeiht nur bei furchtlosem Denken. Zur CDU: Jetzt fangen sie an, über Migration nachzudenken, wo waren die denn die 16 letzten Jahre? Zu Correctivs Wannsee-2.0-Fantasma: Welch journalistisches Desaster von Hamburg bis München!Der Saal spürt, dieser Mann hat eine Riesenwut im Bauch. Sie sitzt in seinen Augen und steckt in seiner Stimme, die zwar nie laut wird, gleichwohl durch Mark und Bein dringt. Atemlose Stille im Saal wechselt mit heftigem Beifall, wenn Tellkamp seine Thesen wie Gewehrsalven durch die Reihen schießt.Nach 80 Minuten des Umsichschlagens kommt Tellkamp an ein Ende, einen Moment lang wirkt er erschöpft. Da weht plötzlich seine Tochter auf die Bühne und setzt sich auf seinen Schoß. Uwe Tellkamp umarmt das kleine Mädchen. Dann lacht er zum ersten Mal an diesem Abend mit Hingabe, schüttelt kurz den Kopf über sich selbst und schlägt seinem Kind vor zu sagen: „Papa, du bist so ein Kürbis!“Selbstironie kann er also auch.Haben Sie Feedback? Schreiben Sie uns! briefe@berliner-zeitung.de