S Ulf Poschardt: „Der gesunde Menschenverstand ist aus der Linken vertrieben worden“ – AktuelleThemen.de

HomeBerlinUlf Poschardt: „Der gesunde Menschenverstand ist aus der Linken vertrieben worden“ Ulf Poschardt: „Der gesunde Menschenverstand ist aus der Linken vertrieben worden“ Der Welt-Herausgeber spricht über seine linke Vergangenheit, seine Fans im Osten, den „Bullshit-Diskurs“ um den AfD-Text von Elon Musk und das Gerücht, er sei einsam.Wiebke Hollersen, Len Sander25.05.2025 16:06 Uhr„Ich kann meine politische Identität nicht ohne linke Theorie denken“: Welt-Herausgeber Ulf Poschardt im Axel-Springer-Verlag in Berlin.Paulus Ponizak/Berliner ZeitungUlf Poschardt bittet in sein schmales, vollgerümpeltes Büro. Im Bücherregal türmen sich Bildbände (Kunst und Formel 1), linke Denker (Michel Foucault, Slavoj Zizek) und rechte (Ernst Jünger). Auf dem Boden eine angefangene Cola, Hanteln und zwei Stapel gelbe Bände. Poschardts Bestseller „Shitbürgertum“, einmal in der Variante, die er selbst herausgab, weil ein Verlag ihm kurz vor Druck abgesagt hatte, einmal in der, die doch noch in einem Verlag erschienen ist.Das Buch ist eine Abrechnung mit Leuten, die sich als links oder grün definieren, in der Kultur, für Medien oder Behörden arbeiten und die in Deutschland, so sieht es Poschardt, zu viel Macht angehäuft haben. Er polemisiert und provoziert darin, wie man das aus seinen Leitartikeln oder Posts bei X kennt. Das Milieu nervt ihn, er hat sich entschlossen, zurückzunerven – und damit ein Buch der Stunde geschrieben.Er fängt sofort an zu reden, ist kaum zu stoppen. Als er das Interview vor der Veröffentlichung gegenliest, fügt er ein paarmal das Wort „lacht“ ein. Dazu kann man nur sagen: Stimmt. Ulf Poschardt hatte im Gespräch sehr gute Laune. Ulf Poschardt: „Ich habe vor niemandem Schiss“ Herr Poschardt, wir wollten eigentlich ein Streitgespräch führen mit Ihnen und jemandem, der Ihren Thesen widerspricht. Wir haben Grüne, Linke und Konservative angefragt, aber nur Absagen bekommen. Warum will niemand mit Ihnen reden?Weil ich nerve.Sie lachen.Nein, im Ernst, es gibt das Vorurteil, dass ich ein eher unangenehmer Gesprächspartner bin. Verstehe ich nicht. Ich spreche gerne mit jedem und habe vor niemandem Schiss. Im Gegenteil, ich freue mich über Streit. Ich sehe es als großes Kompliment, wenn ein berühmter Podcaster zu mir sagt: Ulf, du bist ein Wildpferd. Wenn du losgaloppierst, hält dich keiner auf.Als Begründung, Sie nicht einzuladen?So ist es.In Ihrem neuen Buch beschreiben Sie große Teile des deutschen Bürgertums als viel zu staatsnah, überempfindlich und moralisierend. Und Sie behaupten, diese Leute leben allesamt von Jobs im öffentlichen Dienst, beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk oder in staatlich finanzierten NGOs und sie gäben den Ton der Debatten im Land vor. Wehrt sich niemand dagegen?Es gab zwei kluge linke Verrisse. Der in der Frankfurter Rundschau, der war echt böse, aber schlau. In der Zeit wurde mein Buch mit dem von Habeck verglichen, es hieß, Poschardt sei unsympathischer, aber unter Umständen intelligenter als Habeck. Fand ich super. Was mich überrascht hat: Mein Sound hat sich kaum verändert, aber der politische, kulturelle und mediale Diskurs hat sich dermaßen sterilisiert, dass früher auch links selbstverständliche Polemik ganz anders aufstößt. Deswegen wird mein Sound auf einmal anders wahrgenommen und fällt offenbar positiv auf. Ich hätte nie gedacht, dass das Buch im Selbstverlag knapp 40.000 Stück verkauft und jetzt auf Platz drei in die Spiegel-Bestsellerliste eingestiegen ist. Ich freue mich einfach nur.Ulf Poschardt in seinem Büro in der Redaktion der Welt im Gespräch mit der Berliner Zeitung.Paulus Ponizak/Berliner ZeitungLesen es auch die Leute, von denen es handelt?Die Fans sind genauso genervt von diesem Milieu wie ich. Ich habe tausende Nachrichten bekommen und beantwortet. Um die anderen zu erreichen, habe ich entschieden, mit dem Buch noch in den regulären Buchhandel zu geben, über einen Verlag. Buchhandlungen sind Shitbürger-Kathedralen. Es gibt aber Läden, die sich weigern, das Buch auszulegen (lacht). Meine Mutter ist in Nürnberg aus einem Buchladen weggeschickt worden, als sie danach gefragt hat. Sowas führen wir hier nicht, haben die gesagt.Das könnte am Titel liegen, oder?Ich spiele gern mit Sprache, ich dachte beim Titel aber eher an Schildbürger. Und an Javier Milei, den argentinischen Präsidenten, der die Linke in seinem Land als mierda bezeichnet. Als Scheiße. Ich wollte zu Respektlosigkeit gegenüber diesem Milieu ermutigen, weil das so einen beeindruckenden Respekt vor sich selbst entwickelt hat. Die Leute laufen auf ihrem eigenen Überheblichkeitspodest durch die Wirklichkeit. Einfach lächerlich. Meine Kritik ist natürlich stark geprägt von meiner Herkunft, dem Milieu, in dem ich aufgewachsen bin. Ulf Poschardt: „Durch meinen Vater habe ich verstanden, dass es diese Normalität nicht gibt“ Was hat Sie geprägt?Das Interessante an bürgerlicher Identität ist, dass das Bürgertum sich immer normativ versteht. Ist doch normal, dass man Eltern hat, die einen zur Schule bringen, bevor sie selbst zur Arbeit fahren, dass man Tennis spielt, Weltreisen macht. Mein Vater war an seinem bayerischen Gymnasium das einzige Arbeiterkind in der Klasse. Die Bürgerkinder haben gesagt: Natürlich fährt man in Skiurlaub, natürlich zieht man einen Anzug an. Mein Vater hatte keinen Anzug. Als Sozialdemokrat hat er das ständig als eine Verletzung empfunden: Die Normalität war das, was er als Armer nie hatte. Durch meinen Vater habe ich verstanden, dass es diese Normalität nicht gibt.Stimmt es, dass Sie schon so viel Geld mit dem Buch verdient haben, dass Sie sich einen neuen Ferrari davon kaufen konnten?Ja, aber einen gebrauchten, den ich günstig geschossen habe.Sie nennen sich „Zögling und Günstling“ des Shitbürgertums. Sind Sie ein enttäuschter Linker?Überhaupt nicht enttäuscht. Dankbar. Ich hätte sonst nicht so viel linke Theorie verarbeitet.Ulf Poschardt, ein dankbarer Linker?Ich habe mich nie von meiner linken Sozialisation distanziert. Ich habe ‘68 im Kinderwagen gegen die Notstandsgesetze demonstriert und ich habe während Corona publizistisch gegen Notstandsgesetze protestiert. Ich lese weiterhin Marx, ich lese Gramsci. Ich kann meine politische Identität nicht ohne linke Theorie denken. Es gibt eine krasse freiheitssehnsüchtige Linke, die autonome Linke. Leute wie Ernst Toller, Erich Mühsam, Gustav Landauer. Denen fühle ich mich verpflichtet.Poschardt war bis Ende 2024 Chefredakteur der Welt, seit 2025 ist er Herausgeber der Zeitung.Paulus Ponizak/Berliner ZeitungWieso das?Die Ur-Idee ist: Kein Mensch soll Macht über einen anderen haben. Deswegen finde ich so interessant, dass die aktuell praktizierende Linke sich komplett von ihren eigenen Freiheitswurzeln entfremdet hat. Ich glaube, diese Kritik resoniert auch mit vielen alten Linken. Ich verstehe nur nicht, warum wir alle bei dem Quatsch so lange mitgemacht haben. Bei der Hypermoralisierung, der Cancel Culture.Muss die Linke wieder zu sich selbst zurückfinden?Ich würde sagen: Cut the bullshit. Eine vernünftige Sozialdemokratie wäre wichtig, die Geschichte der Bundesrepublik ohne sie ist unvorstellbar. Aber wir brauchen keine Sozialdemokratie, die den Common Sense ihrer eigenen Wählerschaft vor den Kopf stößt, etwa mit der Migrationspolitik, die wir in Deutschland in den letzten zehn Jahren hatten. Meine Mutter lebt immer noch in einem klassischen Sozi-Viertel in Nürnberg. Da hatte die SPD mal über 70 Prozent. Jetzt kann man sehen, wie sich die AfD da reingefräst hat. Ich bin kein windschnittiger Sachbuchpädagoge, mein Buch sagt nur: Denkt darüber nach! Fortschritt entsteht durch Kritik. Deswegen ist es ja auch so absurd, dass die Linke mit dem postmodernen Scheiß so sensibel geworden ist. Jede Kritik ist eine Mikroaggression. Poschardt über „Shitbürgertum“: „Es haben sich viele Ost-Intellektuelle und -Künstler bei mir gemeldet“ Waren Linke früher wirklich anders?Klar, je gemeiner, je bösartiger, umso besser. Der Einfluss der Identitätspolitik ist fatal. Der gesunde Menschenverstand ist aus der Linken vertrieben worden. Jeder Nichtakademiker denkt heute im Zweifel schlauer als die habilitierten Klugscheißer-Bürgerkinder. Ich ertrage dieses Milieu einfach nicht mehr. Deshalb bin ich auf Treffen mit meinen Auto-Jungs so glücklich.Im Spiegel stand, Sie seien einsam, ehemalige Freunde sorgten sich um Sie.Mir geht es gut. Da haben sich ein paar Leute wohl im Buch wiedererkannt.Ist diese Welt der Akademiker, die Sie beschreiben, nicht auch eine ziemlich westdeutsche Welt? Wenn ich mich richtig entsinne, ist Katrin Göring-Eckardt eine Ostdeutsche. Und auch Angela Merkel. Zwei führende Vertreterinnen des Shitbürgertums. Davon gibt es auch im Osten einige, in den Medien, in den Theatern. In allen Großstädten gibt es die. Sie haben sich assimiliert, glaube ich, in ein in der Tat westdeutsch geprägtes Milieu.Das ist aber nicht überall im Osten vorherrschend.Es gibt im Osten sicherlich eine andere Form von Sensibilität für die Übergriffigkeit des Staates, wegen der Diktaturerfahrung. Es haben sich viele Ost-Intellektuelle und -Künstler bei mir gemeldet. Zuletzt habe ich lange mit einem sehr bekannten, brillanten Schauspieler gesprochen, der das Buch voller Neugier und Freude gelesen hat. Kluge Ostdeutsche wie er spüren, dass da jemand nicht Teil dieses protestantisch-bürgerlichen, bundesrepublikanisch-westdeutschen Elitendings ist. Ich will es nicht sein, ich war es nie, ich werde es nie sein. Ich habe mein Buch absichtlich in Leipzig-Plagwitz vorgestellt. Die einzige Thalia-Filiale, die mein Buch postet, ist Thalia in Jena.Sein Buch „Shitbürgertum“ brachte Poschardt zuerst im Selbstverlag heraus, inzwischen ist es auch im Westend-Verlag erschienen.Paulus Ponizak/Berliner ZeitungWas finden Sie so schlimm an Angela Merkel?Die Staatsfixiertheit ging unter Merkel so richtig los. Mit diesem Satz in der Eurokrise: Die Sparbücher sind sicher. Das hätte der Staat nie wuppen können, bei der Größe der Einlagen, das war geblufft. Aber auf einmal konnte der Staat alles und sollte auch alles regeln. Der Superman-Staat. „Wir schaffen das.“ Wir schaffen als einzige auf der Welt den Atomausstieg, die Energiewende, und wir schaffen auch Corona. Mit einem totalen Überwachungsregime. Vom links-grünen akademischen Bürgertum, das sich im Staatsapparat, in NGOs, dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk breit gemacht hat, wird das alles für richtig erklärt und gefeiert. Poschardt über Böhmermann: „Die Nazikeule ist abgenutzt“ Jetzt ist die Union an der Macht, die AfD wird teils als stärkste Kraft gehandelt. Ist die Zeit, die Sie beschreiben, nicht eigentlich schon zu Ende gegangen?Ich gucke auf die Gegenwartskultur wie Heiner Müller 1988 auf die DDR. Sie trägt sich nicht mehr, aber da wir nicht in einer Diktatur leben, entwickeln sich die Dinge langsamer. Am Ende wird der Zeitgeist vor Ermattung in sich zusammenfallen. Politisch dreht sich die Stimmung, aber die Shitbürger verlieren nicht die Macht, solange sie kulturelle Biotope haben. Die zehn Milliarden Euro im Jahr für den Öffentlich-Rechtlichen werden bleiben. Wie wollen wir die Situation drehen, wenn es nicht Reformen gibt? Achten Sie einmal auf die Stimmlage der Deutschlandfunk-Moderatoren. Die sprechen, als würden sie amtliche Meinungen verkünden.Politisch dreht sich die Stimmung trotzdem.Es gab eine Phase, da haben alle gespurt. Man hat versucht, mich als rechts außen darzustellen. Mittlerweile bin ich frei. Was soll nach dem Hitlerbart, den mir Böhmermann in seiner Sendung verpasst hat, noch passieren? Die Nazikeule ist abgenutzt. Luisa Neubauer kann noch fünf Bücher schreiben und Hedwig Richter und Mark Schieritz und wie sie alle heißen. Die kulturelle Hegemonie lässt nach, das ja, aber ich will sie schubsen.Paulus Ponizak/Berliner ZeitungZur PersonUlf Poschardt, geboren 1967 in Nürnberg, ist seit 2025 Herausgeber von Welt, Politico Deutschland und Business Insider Deutschland. Vorher war er acht Jahre lang Chefredakteur der Welt. Poschardt, der Journalistik und Philosophie studiert und zur Kulturgeschichte des DJ promoviert hat, begann seine journalistische Karriere als Chefredakteur des Magazins der Süddeutschen Zeitung, später leitete er die deutsche Ausgabe des Magazins Vanity Fair.Wie soll das gehen?Es wird sich nichts ändern, wenn man dem NGO-Milieu nicht den Geldhahn abdreht. Aber ich sehe außer der AfD im Augenblick niemanden, der das wirklich will. Und damit es zu keinem Missverständnis kommt: Ich verachte das meiste, was die AfD so liefert. Und finde die linken Milliardäre im Zweifel super, die NGOs gründen, Marxismus, Klimakommunismus, all die eigenen Lebenslügen subventionieren. Gerne: Nur nicht mit Steuergeld.Besteht nicht die Gefahr, dass die Gegenbewegung ein Moralismus von rechts sein wird?Ja, Horror! Ich wurde neulich wegen meiner Kritik am ÖRR gefragt: „Müssten wir jetzt nicht alle Tichys Einblick oder Nius lesen?“ Ich habe gesagt: „Wenn Sie glauben, dass Tichy in seiner rechten Verbitterung etwas anderes ist als die Taz, dann kann ich Ihnen auch nicht helfen.“ Was ist das denn für eine Idee, ein linkes Regime gegen ein rechtes zu tauschen? Es geht um Freiheit. Meine Position richtet sich gegen linke und rechte Wokeness gleichermaßen, gegen Opferhaltung und Verbitterung, die beide Seiten teilen. Für mich ist Humorlosigkeit das sicherste Indiz dafür, dass jemand verbittert ist. Ich sehe das oft bei Linken, die ein gequältes Lächeln aufsetzen. Gerade deshalb lebe ich laut und hedonistisch – weil ich merke, dass es diese Menschen am meisten quält, wenn man trotz stetiger Angriffe gut gelaunt bleibt. Das macht sie regelrecht rasend.Was setzen Sie gegen Moralismus von links und rechts?Mein Angebot ist die Radikalisierung aus der Mitte heraus. Die bürgerliche Mitte hat noch nicht verstanden, wie bedroht sie durch die Stärke der Ränder ist. Sie kann sich nur mit mehr Wehrhaftigkeit verteidigen. Rückkehr zu Pragmatismus, zu Common Sense, zur sozialen Marktwirtschaft. Auch die Reinigung von den ganzen Shit-Diskursen, die Leute einfach in den Wahnsinn getrieben hat. Ich selbst war Betroffener einer Bullshit-Diskussion kurz vor Weihnachten, als wir einen Beitrag von Elon Musk abgedruckt haben.Poschardt im Gespräch mit der Berliner Zeitung.Paulus Ponizak/Berliner ZeitungElon Musk hatte darin zur Wahl der AfD aufgerufen. Elon Musk hat getwittert, dass nur die AfD Deutschland retten könne. Ich verehre Elon Musk, weil ich ihn für brillant halte. Ich mag keine Elektroautos, ich mag auch keine Teslas, ich mag aber Elon Musk. Aber diese Tweets waren totaler Quatsch. Darüber schrieb ich einen Leitartikel, in dem stand, dass Musk die AfD mit Disruption verwechselt. Die AfD ist aber keine Disruption. Dann kam das Angebot, er würde seine Position bei uns erklären. Poschardt über den Text von Elon Musk: „Schwach ist kein Ausdruck“ Wie fanden Sie den Text von Musk?Schwach ist kein Ausdruck. Eher unterkomplex für jemanden, der einen IQ von 160 hat. Vielleicht war es sogar ein KI-Text. Um deutlich zu machen, dass das nicht unserer Meinung entspricht, hat der Chefredakteur einen Text daneben veröffentlicht. Und trotzdem hatten wir drei Wochen lang diese endlose Diskussion. Statt über die desaströse Wirtschaft in Deutschland zu reden, reden wir drei Wochen über diesen Elon-Musk-Text. Das kam sogar auf den Spiegel-Titel. Aber das Foto von mir im Spiegel war ziemlich gut – und ich war größer als Musk abgebildet (lacht). Das war für mich das Highlight.Wie erklären Sie sich die Vehemenz der Kritik?Die Moralisierung aller Dinge ist der einfachste Weg, sich von den Bitterkeiten der Realität zu distanzieren. Helmut Schmidt als Sozialdemokrat und Karl-Popper-Verehrer wusste, dass man aus der Unerbittlichkeit der Realität nicht entkommen kann. Mein Lieblingszitat von Popper, das auch Schmidt mochte: „Wir können nie sicher wissen, ob unsere politischen Maßnahmen richtig sind. Deshalb sollten wir sie so gestalten, dass sie korrigierbar sind.“ Schmidt hätte sich jede dieser Moralisierungen verbeten. Wer Helmut Schmidt zu China kennt, wer Helmut Schmidt zur Migration kennt, der sieht, wie weit sich die SPD die Härten der Realität durch Moralisierung vom Hals hält. Die Linke hat sich aus der Realität verzogen und sich ausschließlich auf das Dozieren von Moral verlegt. Marx hat Moral verachtet, das war für ihn das Allerletzte.Sie schreiben in Ihrem Buch: Viele Deutsche wollen unbedingt alles richtig machen, auf der richtigen Seite stehen, weil sie nach 1945 die deutsche Schuld nicht verarbeitet haben. Nun sagen die Leute, die den Text von Musk über die AfD kritisieren: Wir machen uns Sorgen vor einem neuen 1933. Wie passt das zusammen?Sich selbst als Antifaschist zu imaginieren ist der Versuch, sich aus den Fallstricken der Vergangenheit zu stehlen. Man klebt sich einen Aufkleber auf den Tesla: Ich habe den gekauft, bevor Elon verrückt wurde. Man nennt Donald Trump, dessen Tochter eine jüdische Familie hat, einen neuen Hitler. Da muss man nicht über den eigenen Opa nachdenken oder über die Besetzung von Hörsälen an der Uni, an der man arbeitet, auch wenn da – wie an der HU und FU – ein ekliger eliminatorischer Antisemitismus vertreten wird. Aber das ist in der deutschen Linken nach 1945 nichts Neues, das zieht sich von Anfang an durch.Was meinen Sie damit?Der Gestank der verbrannten Kinder aus den KZs lag noch in der Luft, die Leichen wurden abtransportiert. Und nahezu jeder war mitschuldig geworden. Wie kannst du danach weiterleben, wie geht das? In der Psychologie gibt es den Begriff der Spaltungsabwehr. Anteile an sich selbst oder einer Sache, die man nicht erträgt, werden abgespalten; in der Folge ist eine Person oder Sache entweder nur gut oder nur böse. Intellektuelle haben ihre Nazi-Biografien gefälscht, Walter Jens, Günter Grass, die haben alle verheimlicht, dass sie mitgemacht hatten. Der Nullpunkt ist für mich der Moment, in dem der Holocaust-Überlebende Paul Celan vor den Schriftstellern der Gruppe 47 sein später berühmtes Gedicht „Todesfuge“ vorträgt. Da sitzen die Mittäter und lachen ihn aus. Sie sagen: Warum heult der Jude so rum, wir sind hier nicht in der Synagoge. 1952. Sieben Jahre nach der Shoah. Das waren die großen moralischen intellektuellen Eliten der Bundesrepublik.Im Bücherregal von Poschardt stehen linke Denker neben rechten, Kunst- neben Formel-1-Bildbänden.Paulus Ponizak/Berliner ZeitungWie ging es weiter?1968, Rudi Dutschke, der Marsch durch die Institutionen. Wir verbeamten die Rebellion. Wir sind die besseren Menschen, die Anständigen, und wir sind jetzt auch der Staat. Da fing es damit an, dass das alles eins wurde.Sie sind ein Fan des argentinischen Präsidenten Milei, der den Staat radikal zurückdrängen will. Ist der Mann nicht gefährlich?Milei ist ein brillanter Ökonom. Punkt. Ein Anarchokapitalist, der eine Wahl in einem Land gewonnen hat, das von links wie rechts eine Staatsobsession hatte, die es kaputt gemacht hat. Eine Ein-Mann-Bewegung. Ein Tantrasexlehrer, Nationalökonom, Rockstar, ein Mann, der, seit er bei chassidischen Rabbinern über die letzten Dinge nachdenkt, eine Verbindung zu Israel und der Ukraine hat. Der Typ ist unbestechlich und ein beeindruckender Charismatiker. Er hat gerade in den Provinzwahlen bemerkenswerte Ergebnisse erzielt, auch wenn hier immer schlecht über ihn geredet wird. Den Armen geht es besser, das Land befindet sich im Aufschwung.Auch Ihre anderen politischen Idole sind in Deutschland umstritten. Elon Musk, Giorgia Meloni … Elon Musk hat in seinem Leben so viel Dinge erfunden wie kaum ein deutscher Unternehmer. Ich durfte ihn ein, zweimal erleben. Es ist beeindruckend, auf welcher Bandbreite er tief und klug Antworten geben kann – abseits jedweder Konvention. Neurodivers nennt man das jetzt. Giorgia Meloni ist eine Kommunistentochter aus einem Arbeiterviertel, beginnt ganz rechts außen bei den Neofaschisten und führt ihre Partei mehr oder weniger in die konservative Mitte. Großartig.Welcher Deutsche passt in diese Reihe?Solche Figuren haben wir nicht. Auch weil diese Art von Individualismus bei uns keinen kulturellen Referenzraum mehr hat. Poschardt über Friedrich Merz: „Ein bisschen weltläufiger“ Wie blicken Sie auf Friedrich Merz?Ich habe ihm in einem Leitartikel Verrat vorgeworfen wegen der Schuldenbremse, darüber hat er sich in der Zeit etwas beschwert. Er könne Leute, die ihn so kritisieren, nicht ernst nehmen, die stünden rechts außen. Das fand ich überraschend.Merz ist in dem von Ihnen kritisierten Milieu eine regelrechte Hassfigur. Verstehen Sie, warum?Nee, überhaupt nicht. Er will 900 Milliarden Euro Schulden machen und macht den Staat damit ökonomisch allmächtig. Unter Merz drucken wir Geld ohne Ende. Wir legen nicht Hand an die NGOs, den staatsfinanzierten, vorpolitischen Raum. Er ist den Shitbürgern anfänglich sehr entgegengekommen. Aber ich finde, außenpolitisch hat er eine gute Rolle abgegeben in Paris und Kiew. Merz ist auch nicht der Lockerste, aber sein Auftreten ist einfach ein bisschen weltläufiger als das von Olaf Scholz. Die Rede vor dem Wirtschaftsrat war sehr gut. Deswegen habe ich ihn gewählt. Mal sehen.Poschardt im Neubau des Axel-Springer-Verlags in Berlin.Paulus Ponizak/Berliner ZeitungWarum streiten Sie sich eigentlich nicht mehr auf X?Jeder weiß, dass ich ein Freund der Ukraine bin. Aber als ich einen Text von Welt-Autoren verteidigt habe, die kritisch über Präsident Selenskyj im Oval Office geschrieben haben, hat mich eine Bubble dermaßen mit Angriffen überzogen. Ich hatte keine Lust mehr. Das war die beste Entscheidung seit langem. Jetzt bewerbe ich auf X nur noch mein Buch. Lesen Sie mehr zum Thema BerlinKulturAfDSPDElon MuskAngela MerkelWirtschaftAICorona-DebatteElektroauto

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert