PolitikDeutschland Nazi-KZ Sachsenhausen: Gedenken mit letzten Zeitzeugen Marcel Fürstenau21.04.202521. April 2025Am 22. April 1945 wurde das KZ Sachsenhausen befreit. Zu den Gedenkveranstaltungen werden letzte Überlebende erwartet. Ohne sie wird sich die Erinnerung verändern. Nachkommen der Opfer sind schon jetzt sehr wichtig.https://p.dw.com/p/4t051Blick durch das Eingangstor im ehemaligen KZ Sachsenhausen, das heute eine Mahn- und Gedenkstätte ist Bild: Paul Zinken/dpa/picture allianceAnzeigeAls die Retter das Konzentrationslager Sachsenhausen erreichten, trafen sie auf rund 3000 Häftlinge, Pfleger und Ärzte. Für etwa 300 Gefangene endete die Befreiung am 22. April 1945 durch polnische und sowjetische Soldaten jedoch tragisch: Sie starben kurz danach an den Folgen ihrer grausamen Behandlung durch die Nationalsozialisten. 30.000 Häftlinge wurden auf Todesmärsche geschickt Die Räumung des nördlich von Berlin gelegenen KZ hatte am Tag zuvor begonnen. Mehr als 30.000 Häftlinge wurden von den flüchtenden Nazis auf sogenannte Todesmärsche geschickt, mehrere Tausend überlebten diese Tortur nicht. Insgesamt waren zwischen 1936 und 1945 mindestens 200.000 Menschen aus etwa 40 Ländern in Sachsenhausen und zahlreichen Außenlagern inhaftiert. Gedenktafeln an den Todesmarsch Tausender Häftlinge aus dem KZ Sachsenhausen gibt es an vielen Orten nördlich von BerlinBild: Bildagentur-online/Joko/picture alliance Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs kamen Zehntausende zu Tode – durch Hunger, Krankheiten, Misshandlungen, medizinische Versuche und Zwangsarbeit. Allein im Herbst 1941 wurden mindestens 10.000 sowjetische Kriegsgefangene, darunter viele Juden, in einer extra dafür errichteten Genickschussanlage ermordet oder in umgebauten Lastwagen vergast. Auschwitz-Kommandant Rudolf Höß war vorher in Sachsenhausen Als Modell- und Schulungslager in unmittelbarer Nähe der Reichshauptstadt Berlin nahm Sachsenhausen eine besondere Stellung ein. Seit 1938 befand sich dort die zentrale Verwaltung für das gesamte KZ-System. Zu den berüchtigtsten Nazis in Sachsenhausen gehörte der spätere Kommandant des Vernichtungslagers Auschwitz, Rudolf Höß. Er wurde 1947 als Kriegsverbrecher hingerichtet. Rudolf Höß, später Kommandant des Vernichtungslagers Auschwitz, war im KZ Sachsenhausen an der Ermordung von Häftlingen beteiligt Bild: PAP/picture alliance Anlässlich der Gedenkfeiern zum 80. Jahrestag der Befreiung werden Ende April und Anfang Mai sechs Überlebende nach Sachsenhausen zurückkehren – drei Frauen und drei Männer. Sie wurden in den letzten Kriegsjahren als Kinder und Jugendliche in das zentrale KZ oder eines seiner Außenlager verschleppt. Zeitzeugen-Gespräch mit einem 100-jährigen Ukrainer Fünf stammen aus Polen. Der Ukrainer Mykola Urban wurde 1924 in Charkiw geboren und ist mit 100 Jahren der Älteste. Er wird zum ersten Mal an einer Gedenkfeier teilnehmen und aus der Schweiz anreisen, wohin er nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen sein Heimatland evakuiert worden ist. Am 30. April ist mit ihm ein öffentliches Zeitzeugen-Gespräch in der Landesvertretung Brandenburg in Berlin geplant. Der 100-jährige Sachsenhausen-Überlebende Mykola Urban wird an den Gedenkveranstaltungen teilnehmen, die 80 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers in Deutschland geplant sindBild: Aldo Ellena/Freiburger Nachrichten Urban unterstützte im Zweiten Weltkrieg Partisanen und wurde 1942 ins KZ Sachsenhausen deportiert. Im Außenlager Falkensee missbrauchte ihn die Deutsche Maschinen AG (DEMAG) als Zwangsarbeiter für die Produktion von Panzern. Kurz vor Kriegsende gelang ihm mit zwei Landsleuten die Flucht. Die Männer schlossen sich einem Regiment der sowjetischen Roten Armee an, das im Mai 1945 am Kampf um Berlin beteiligt war. Für Überlebende könnte es die letzte Rückkehr werden Die bevorstehende Rückkehr nach Sachsenhausen könnte für Urban und die anderen hochbetagten Zeitzeugen ihr letzter Besuch sein. Dieser Gedanke begleitet den Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Axel Drecoll, schon lange. Denn die meisten KZ-Überlebenden sind inzwischen gestorben. „Sie waren häufig an unserer Seite, wie väterliche und mütterliche Freunde und Freundinnen. Für uns ist das eine sehr einschneidende Zäsur, dass diese Menschen kaum noch da sind.“ Um sich der Geschichte ehemaliger Konzentrationslager wie Sachsenhausen oder des Frauen-KZ Ravensbrück anzunähern, setzen die Gedenkstätten schon seit vielen Jahren auf Kunst und Musik, aber auch Workshops für junge Menschen. „Das ist deshalb so wichtig, weil neben der klassischen Pädagogik und klassischen Ausstellungsformaten Kultur Brücken bauen, Barrieren abbauen und Menschen dort abholen kann, wo sie sowieso Interessen haben“, weiß Drecoll aus Erfahrung. „Die Nazis haben die Häftlinge zu Nummern gemacht“ Katrin Grüber kann das bestätigen. Die Enkelin eines Sachsenhausen-Häftlings ist Vorsitzende des Fördervereins der Gedenkstätte und des dazugehörenden Museums. Wenn bei offiziellen Veranstaltungen von KZ-Insassen verfasste Lieder gesungen werden, sind auch Nachgeborene davon ergriffen. „Die Nazis haben die Häftlinge zu Nummern gemacht, aber sie waren zu jedem Zeitpunkt Menschen. Und die Lieder können dabei helfen, sich die Menschen vorzustellen, die sie gesungen haben“, sagt Katrin Grüber. Ihr Großvater Heinrich war Pfarrer und Mitglied der Bekennenden Kirche, die in Opposition zum Nationalsozialistischen Regime stand. Wegen seines Engagements, insbesondere auch für Menschen jüdischen Glaubens, landete er 1940 in Sachsenhausen und später im KZ Dachau. Familiärer Bezug zu KZ-Opfern Die Enkeltochter hat ihren 1975 verstorbenen Großvater noch erlebt. Mit dem Reden über ihre Familiengeschichte spannt sie den Bogen von der Vergangenheit ins Hier und Heute. Von ihrem Großvater Heinrich weiß sie, dass er im KZ gegenüber Mitgefangenen Solidarität geleistet, aber auch selber erfahren habe. „Er war dem Tod sehr nahe, wurde aber von kommunistischen Mithäftlingen gerettet“, erzählt die Enkelin. „Das ist was, was man immer wieder in die Gegenwart mitnehmen kann“, sagt Katrin Grüber über ge- und erlebte Menschlichkeit. Darüber will sie sich im Rahmen der Gedenkfeiern anlässlich des 80. Jahrestages der Befreiung Sachsenhausens mit anderen Nachkommen austauschen. „Wir hoffen, dass Kontakte entstehen, die über den Tag hinausreichen und dass es in jedem Jahr ein solches Treffen geben wird“, sagt die Vorsitzende des Förderkreises der Gedenkstätte. Kritik an der aktuellen Debatte über Migration und Flüchtlinge Den Wert authentischer Orte wie Sachsenhausen kann man aus ihrer Sicht nicht hoch genug einschätzen: „Sie vermitteln Wissen, ordnen Einzelschicksale ein. Und sie ermöglichen es den Besucherinnen und Besuchern, sich von dem Ort berühren zu lassen“, meint Katrin Grüber. Dabei denkt sie auch an den allgemeinen Rechtsruck in Deutschland. „Für mich gehört zu den Lehren aus der Geschichte: Menschen dürfen nicht ausgegrenzt und zu Sündenböcken gemacht werden. Deshalb schmerzt mich die derzeitige Debatte um Geflüchtete.“ Flüchtlinge in Deutschland haben Angst vor der Zukunft To view this video please enable JavaScript, and consider upgrading to a web browser that supports HTML5 video Vor kurzem hat sich die künftige Regierungskoalition aus christlichen Unionsparteien (CDU/CSU) und den Sozialdemokraten (SPD) in ihrem Koalitionsvertrag auf massive Verschärfungen in der Asylpolitik verständigt. Und schon seit Jahren macht die teilweise rechtsextreme Alternative für Deutschland (AfD) Stimmung gegen Einheimische mit ausländischen Wurzeln und gegen Menschen, die vor Krieg und Armut fliehen. Die AfD darf in Sachsenhausen keine Kränze niederlegen Auch Axel Drecoll sorgt sich um die weitere Entwicklung der weltweit unter Druck geratenen Demokratie. Man stehe auch deshalb vor großen Herausforderungen, sagt der Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten. Bei den Veranstaltungen anlässlich der Befreiung des Konzentrationslagers Sachsenhausen wird er der AfD verbieten, Kränze niederzulegen. Dieser Akt sei eine Ehrbekundung. „Das werden wir durch die AfD nicht zulassen“, versichert Drecoll. AfD gegen Erinnerungskultur To view this video please enable JavaScript, and consider upgrading to a web browser that supports HTML5 video Sein Blick geht derweil schon über das Gedenken an die Befreiung der Konzentrationslager im April 1945 hinaus. Denn noch im selben Jahr wurde das ehemalige KZ Sachsenhausen von der im Zweiten Weltkrieg siegreichen Sowjetunion in ein Speziallager umgewidmet. Auf das verbrecherische Nazi-Regime folgte die kommunistische Schreckensherrschaft. Gedenken an das sowjetische Speziallager Bis zur Auflösung des Nachfolgelagers 1950 wurden rund 60.000 Menschen inhaftiert. Allen voran Nazis, aber auch Gegner der neuen Machthaber und aus willkürlichen Gründen festgenommene Personen. Etwa 12.000 von ihnen starben an Hunger und Krankheiten. Auch an dieses Kapitel der Geschichte Sachsenhausens wird Anfang September mit Gedenkveranstaltungen und Ausstellungen erinnert. Marcel Fürstenau Autor und Reporter für Politik & Zeitgeschichte – Schwerpunkt: DeutschlandSchicken Sie uns Ihr Feedback!Ihr FeedbackAnzeige