S In Charlottenburg kippt die Stimmung: „Vor drei Jahren hätte niemand zugegeben, dass er AfD wählt“ – AktuelleThemen.de

HomeIn Charlottenburg kippt die Stimmung: „Vor drei Jahren hätte niemand zugegeben, dass er AfD wählt“ In Charlottenburg kippt die Stimmung: „Vor drei Jahren hätte niemand zugegeben, dass er AfD wählt“ Eine Türkin, die mit Attentätern wie dem in München abrechnet, ein Teeverkäufer, der sich für den Tierschutz einsetzt. Wie wählt Berlin? Ein Besuch in Charlottenburg.Anne-Kattrin Palmer16.02.2025 06:57 UhrTeeverkäufer Michael Seiboldweiß schon genau, wen er wählen wird.Markus Wächter/Berliner ZeitungDas Attentat von München liegt wie ein dunkler Schatten über der verschneiten Wilmersdorfer Straße. Der brutale Anschlag, bei dem ein 24-jähriger Afghane nahe dem Hauptbahnhof von hinten in eine ahnungslose Menschenmenge raste, beschäftigt viele, hallt in Gesprächen nach, schwingt an jenem Nachmittag in Blicken mit.Hinter der Theke eines kleinen Tabakladens steht sie – eine Berlinerin mit türkischen Wurzeln, die mehr erlebt hat, als sie zu erzählen bereit ist. Nurcans Eltern kamen als Gastarbeiter nach Deutschland, schufteten, zahlten Steuern, bauten sich ein Leben auf. „Sie haben immer gearbeitet, immer beigetragen“, sagt die 58-Jährige mit fester Stimme.Dann zeigt sie aufs Handy. Eine neue Schlagzeile. Wieder ein Attentat, diesmal in München. Sie seufzt tief. „Ich bin es so leid. Deutschland nimmt Menschen auf – und manche missbrauchen diese Gastfreundschaft.“ Ihre Wut ist kein kurzer Funke, sondern ein Feuer, das lange in ihr in ihr brennt. „Die Politiker sollen aufhören, sich gegenseitig zu beschimpfen, und endlich handeln!“ Und die Wahl? Sie winkt ab. „Habe schon Briefwahl gemacht.“ Dann widmet sie sich einer Kundin, reicht wortlos Tabak über den Tresen.Daniel B. aus Marzahn-Hellersdorf: „Es ist ungerecht, dass man die AfD ständig weiter nach rechts schiebt“Berlin14.02.2025So blicken Neuköllner auf Migration und AfD – und das erhoffen sie sich von der BundestagswahlBezirke14.02.2025Als wir gehen, ruft sie uns freundlich, aber bestimmt nach: „Ich habe jahrelang über das, was schiefläuft, geschwiegen – aber jetzt nicht mehr.“ Es klingt nicht nur wie eine Feststellung. Es klingt wie ein Aufbruch.Die Tabakverkäuferin steht nicht alleine da. Seit Tagen durchstreifen Reporter der Berliner Zeitung die Straßen der Hauptstadt, sprechen mit den Menschen, horchen nach ihren Sorgen. In den Ostbezirken genauso wie in Charlottenburg. Die Gespräche offenbaren eine wachsende Ungeduld und Wut. Die Menschen sehnen sich nach Antworten, nach einer Politik, die endlich handelt, nicht nur redet. Immer wieder tauchen die gleichen Themen auf, fast wie eine Litanei: die sich häufenden Anschläge, die Angst vor einer unkontrollierten Migration, die gnadenlose Teuerung, die viele an den Rand der Existenz drängt. Auf den Gehwegen, in den Cafés und Supermärkten, an den Stammtischen und Bushaltestellen stets das Gefühl: Die Politik hat uns längst vergessen.Auch in Charlottenburg, wo noch drei Jahre zuvor kaum jemand offen über seine Wahlentscheidung sprach, trauen sich die Menschen nun, laut auszusprechen, was sie denken: „Ich hätte mir nie vorstellen können, AfD zu wählen“, sagt eine pensionierte Lehrerin in einer Bäckerei. „Aber wer sonst hört uns zu? In meinem Bekanntenkreis ist das auch so. Vor drei Jahren hätte kaum jemand zugegeben, AfD zu wählen.“ Ein Mann will dem BSW seine Stimmen geben, andere den Linken. Die etablierten Parteien CDU, SPD, Grüne und FDP – auf die sind viele sauer in dem verkürzten Winterwahlkampf. Rentnerin: Morgens um 8 Uhr zum Lietzensee Flaschen sammeln Auch am Freitag ist es kalt, der Schnee peitscht durch die Straßen. Eine Rentnerin, die sich schämt, ihren Namen zu sagen, beugt sich auf der Wilmersdorfer Straße über einen Mülleimer und sammelt leere Pfandflaschen. Ihre Hände sind rau von der Kälte, ihr Blick müde. „Die Menschen sehnen sich nach Veränderung“, sagt sie leise. „Sie haben das Gefühl, dass niemand ihre Sorgen ernst nimmt.“ Ob sie glaube, dass die AfD etwas ändern könne? Sie zuckt mit den Schultern. „Die Leute wollen ein Zeichen setzen, indem sie die wählen, wollen, dass die Politik endlich aufwacht.“ Sie selbst? „Ich kann mich noch nicht entscheiden.“Die Anziehsachen stammen aus einem besseren Leben.Rentnerin aus Berlin-CharlottenburgAm Morgen war sie schon am Lietzensee unterwegs, suchte um acht Uhr nach Pfand, erzählt die 79-Jährige. „Ich bin nicht alleine, viele Rentner sammeln in Charlottenburg Flaschen.“ Sie trägt eine elegante Jacke, ein farbiges Halstuch, feste Boots – ein Kontrast zu ihrer Lebenswirklichkeit. „Die Anziehsachen stammen aus einem besseren Leben“, murmelt sie, fast entschuldigend. Doch heute sammelt sie Leergut, um sich mit zwei Euro etwas Obst oder Salat leisten zu können. „Mit meiner Rente von etwas über 1000 Euro komme ich oft nicht über die Runden.“ Im Januar kamen die Rechnungen. Versicherungen, Nebenkosten, alles auf einmal. Am 10. Januar war ihr Konto leer.Glück im Unglück: Ihr alter Mietvertrag sichert ihr eine Wohnung für 500 Euro. Ein Segen, sagt sie, denn die Wohnung unter ihr – einst genauso teuer – wird nun für 1200 Euro vermietet.Adrian Port findet den Wahlkampf zu emotional – er schwankt zwischen BSW und Linke.Markus Wächter/Berliner ZeitungVor dem Café Extrablatt bleibt sie stehen. Drinnen ist es warm, Stimmengewirr dringt nach draußen. Ein Kaffee kostet hier mehr als drei Euro, ein Essen mindestens sechs. „Ich war neulich mit meiner Tochter beim Italiener“, erzählt sie und schüttelt den Kopf. „Sie wollten sieben Euro für ein Glas Wein.“ Sie lacht kurz, trocken. Dann schweigt sie. Schnee wirbelt über das Kopfsteinpflaster. Sprachwissenschaftler: „Ich schwanke zwischen BSW und Linke“ Adrian Port (35) ist auf dem Weg zur U-Bahn, er trägt einen Rolli und eine dicke Jacke gegen die Kälte. Der 35-Jährige arbeitet im Marketing und ist Kommunikations- und Sprachwissenschaftler – und ist sich ebenfalls noch nicht sicher, wen er wählen wird. Damit gehört er ebenfalls zu den vielen Unentschlossenen vor dieser Bundestagswahl. „Ich schwanke zwischen BSW und Linke“, sagt er – doch der Wahlkampf enttäuscht ihn. Für ihn ist er überhitzt, verzerrt und voller Phrasen. Ihm fehle es auch oft an Pragmatismus. Statt greifbarer Inhalte gebe es große Versprechen und Wahlgeschenke, deren Finanzierung im Dunkeln bleibe. Auch sorgt er sich um Freunde, von denen er sicher weiß, dass sie in die Armut rutschen werden – etwa eine alleinerziehende Bekannte. Beim Thema Migration sieht er die Politik als naiv an. Alles in allem: „Ich wünsche mir eine ehrlichere Politik.“Aktuelle Umfrage vor der Wahl: FDP schafft es in den Bundestag – andere Partei legt zuNews14.02.2025Wenn AfD und Grüne auf einem Marktplatz aufeinandertreffen: „Keiner ist hier fremdenfeindlich“Politik14.02.2025Viele suchen an diesem Nachmittag Zuflucht in den Wilmersdorfer Arcaden – ein Ort, an dem es warm ist, an dem die Zeit für einen Moment stillzustehen scheint. Die schweren Glastüren gleiten auf, ein warmer Luftstoß umfängt die Fröstelnden wie eine Umarmung. Drinnen, im künstlichen Licht, riecht es nach Parfüm, Fischbrötchen, nach frisch gemahlenem Kaffee aus dem Café in der Ecke.Im Untergeschoss eines kleinen Ladens wiegt Michael Seibold Tee ab. Hinter der Theke, in schwarzer Schürze, spricht der 59-Jährige mit ruhiger Bestimmtheit: „Die etablierten Parteien müssen endlich dem Rechtsruck entgegentreten – und das geht nur mit kontrollierter Einwanderung.“ Verkäufer: Die Mitte-Parteien haben das Thema Migration zu lange ignoriert Für ihn ist klar: Die Mitte-Parteien haben das Thema Migration jahrelang verschlafen, zu lange ignoriert – und genau deshalb strömen so viele Menschen zur AfD. „Ein Friedrich Merz macht jetzt große Wellen nach Aschaffenburg, aber er hätte das längst tun können.“ Er meint den Fünf-Punkte-Plan zur Migration, mit dem die CDU zuletzt Schlagzeilen machte. Die Union brachte mit AfD-Stimmen einen Entschließungsantrag durch, die Debatte kocht seitdem hoch. Seibold sieht darin hausgemachte Empörung. Er sagt aber auch: „Ich begrüße Demos gegen rechts – es ist wichtig, dass Menschen sich wehren. Doch damit wird das Thema der Attentate, der ungelösten Migrationsfrage in die falsche Ecke gerutscht. Das frustriert viele.“Eine Kundin mischt sich ein. Seit zehn Jahren lebt sie in Dänemark, jenem Land, das oft als Vorbild in der Migrationspolitik gilt. „Die Dänen sind gepflegt ausländerfeindlich“, sagt sie nüchtern. „Dort vertreten die Sozialdemokraten Positionen, die teils nach CDU oder AfD klingen. Und die Leute? Die finden das völlig normal und verstehen nicht, warum andere Länder so viele Menschen aufnehmen.“Sie kauft mehrere Packungen Earl Grey, zahlt und geht. Seibold nickt nachdenklich. „Die Migrationsfrage darf nicht den Rechten überlassen werden.“ Und wen wählt er selbst? Er schmunzelt. „Seit Jahren die Tierschutzpartei. Die setzen sich nicht nur für Tiere ein, sondern auch für soziale Themen.“Julia Velegraki (r.) und Rosalie Glaser (l.)sind noch nicht in Wahlstimmung.Markus Wächter/Berliner ZeitungWie die Menschen letztendlich bei der Bundestagswahl in dem Bezirk wählen? Die Prognosen vermitteln einen ersten Eindruck. Bei der Bundestagswahl 2021 lag die Wahlbeteiligung im Wahlkreis bei 68,1 Prozent. Der Wettbewerb um das Direktmandat war vor drei Jahren besonders eng und endete mit einem Sieg von Michael Müller (SPD), der sich knapp gegen Lisa Paus (Grüne) und Klaus-Dieter Gröhler (CDU) durchsetzte. Bei den Zweitstimmen hingegen vereinten die Grünen die meisten Stimmen auf sich. In Charlottenburg-Wilmersdorf führt aktuell ähnlich deutlich der CDU-Kandidat Lukas-Albrecht Krieger. Für Michael Müller, der insgesamt zwölf Jahre SPD-Landesvorsitzender, zehn Jahre Fraktionschef im Abgeordnetenhaus und sieben Jahre Berlins Regierender Bürgermeister war, ist es wohl der letzte Wahlkampf. Er flog von der SPD-Landesliste – und muss deshalb nun ein kaum erreichbares Direktmandat gewinnen. Studentin Julia: „Die politische Lage ist chaotisch und unschön“ In einem Café sitzen zwischen leeren Tassen Julia Velegraki (20) und Rosalie Glaser (19). Sie haben gerade eine Jura-Klausur geschrieben, doch ihr Kopf ist längst woanders – beim Wahlkampf, der sie mehr frustriert als begeistert.„Die politische Lage ist chaotisch und unschön“, sagt Julia und rührt gedankenverloren in ihrem Shake. „Ich sehe keine Partei, die ich wirklich wählen kann. Höchstens vielleicht die Linke.“ Vor allem die Neiddebatten machen sie wütend. Dass ausgerechnet Menschen aus wohlhabenden Verhältnissen über angeblich faule Bürgergeld-Empfänger herziehen, empfindet sie als zynisch. „Ich mag diesen Umgang mit Menschen einfach nicht.“Rosalie nickt zustimmend. „Ich weiß auch nicht, wen ich wählen soll. Die AfD auf keinen Fall, aber die anderen Parteien machen es einem auch nicht leicht.“ Ihr Wunsch: Mehr Zusammenhalt statt Spaltung. „Wir sind eine Gemeinschaft – oder sollten es zumindest sein.“ Doch wie soll das gehen, wenn sich die Parteien nur noch bekriegen? „Die streiten jetzt so heftig – wie soll das später eine Koalition ergeben?“ Zwischen Lernstress und Wahlkampfmüdigkeit bleibt vor allem ein Gefühl: Ernüchterung. Doch auch ein leiser Appell zweier junger Frauen, die sich eine Politik wünschen, die nicht spaltet, sondern verbindet.

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