Hendrick Streeck über Corona-Aufarbeitung: „Einen Bürgerrat halte ich für vollkommen falsch“

HomeHendrick Streeck über Corona-Aufarbeitung: „Einen Bürgerrat halte ich für vollkommen falsch“ Hendrick Streeck über Corona-Aufarbeitung: „Einen Bürgerrat halte ich für vollkommen falsch“ Der Virologe Hendrik Streeck will für die CDU in den Bundestag einziehen. Welche politischen Ziele hat er – und was gefällt ihm an Gesundheitsminister Lauterbach? Ein Interview.Martin Rücker03.12.2024 03:29 Uhr24.09.2024, Nordrhein-Westfalen, Bonn: Der Virologe Hendrik StreeckThomas Banneyer/dpaZweimal hatte Hendrik Streeck den lange geplanten Interviewtermin verschoben. Zur Aufarbeitung der Corona-Politik war der Virologe spätestens nach der Veröffentlichung seines Buches „Nachbeben: Die Pandemie, ihre Folgen und was wir daraus lernen können“ ständig auf Sendung – in dem Gespräch aber sollte es auch um andere Themen der Gesundheitspolitik gehen. Schließlich bereitet sich der Wissenschaftler auf eine Karriere im Bundestag vor, will für die CDU in Bonn ein Direktmandat holen. Zunächst erbat sich Streeck mehr Zeit, um sich tiefer in die politischen Themen einarbeiten zu können. Dann machte das Ende der Ampelkoalition alle Zeitplanungen zunichte. Streeck und seine Unterstützer hatten den plötzlich beginnenden Wahlkampf zu organisieren.Inzwischen sind Flyer und Wahlplakate vorbereitet, berichtet der 47-Jährige, als es am vergangenen Mittwoch schließlich zum Gespräch kommt. Streeck ist leicht erkältet, beschwichtigt aber gleich. Es seien nur Rhinoviren, ein gewöhnlicher Schnupfen also. Für den Wahlkampf fühlt sich Streeck offenbar gerüstet. Die Berliner Zeitung sprach mit ihm über seine politischen Ziele.Corona-Maßnahmen als Erziehungsprogramm? Lauterbach und die Absenkung der RisikostufeVon Christian SchwagerGesundheit29.11.2024Herr Streeck, die Weihnachtszeit steht bevor, beginnen wir versöhnlich: Was ist das Beste, das Sie über den amtierenden Gesundheitsminister Karl Lauterbach sagen können?(überlegt) Ganz unabhängig von Weihnachten: Karl Lauterbach hatte oft gute Ansätze, ob mit der Krankenhausreform oder der Notfallreform. Es hapert jedoch eklatant an der Umsetzung. So etwas erreicht man nämlich nicht am Schreibtisch, sondern nur in einem Team, in das alle Partikularinteressen mit einbezogen sind.Nun sind Sie sehr schnell auf Kritik umgeschwenkt. Gibt es nichts, das Sie als Errungenschaft in Lauterbachs Amtszeit anerkennen?Sind wir jetzt immer noch bei Weihnachten? (lacht) Lauterbach hat vieles angestoßen, aber wenig durchgesetzt. Um im Ärztlichen zu bleiben: Eine richtige Diagnose ist wichtig, aber ist leider noch keine wirksame Therapie. Er hat rund 15 Gesetze angestoßen – rechnen sie mal nach, wie viele davon die Ziellinie erreicht haben.Karl Lauterbach im Rahmen der Sitzung des Bundesrates zur Debatte über die Krankenhausreform.Florian Gärtner/imagoIhre Partei, die CDU, hat bereits angekündigt, im Falle einer Regierungsübernahme einige Ampel-Gesetze wieder zu kassieren. Welche Reformen aus dem Gesundheitsbereich sollten dazugehören?Es ist schwer im Gesundheitsbereich, etwas zu 100 Prozent zurückzudrehen und auch nicht unbedingt nötig. Bei der Krankenhausreform gab es teilweise nur Zustimmung, weil die Alternative noch schlechter gewesen wäre. Das darf nicht das Ziel sein, daher sollten wir daran schon zügig einiges verändern – ebenso bei der Cannabis-Legalisierung. Es ist im Grundsatz richtig, den Zugang zu Cannabis zu erleichtern. Zugleich müssen wir aber aufpassen, dass wir die Warnungen und Mahnungen von Ärzten und Experten ernst nehmen. Gesundheitspolitik ist für die Menschen zurecht hoch emotional, es geht am Ende um unsere körperliche Unversehrtheit. An dieser Stelle von „Kassieren“ zu sprechen, wird der Verantwortung in Zeiten großer Verunsicherung nicht gerecht. Aber zu tun gibt es viel!Ärztekammer fordert: Nächste Bundesregierung muss Cannabis-Legalisierung aufhebenNews01.12.2024Die EU diskutiert gerade ein Rauchverbot im Freien, Großbritannien bereitet eine strengere Tabakregulierung vor. Die Altersgrenze für Zigaretten soll dort jedes Jahr steigen, so dass künftige Generationen ein Leben lang keine Zigaretten mehr kaufen dürften. Auch bei E-Zigaretten sind Verbote in der Debatte. Wie stehen Sie dazu?Als Arzt sage ich: Niemand sollte rauchen. Als Politiker sage ich: Das sind große Debatten, die man angehen kann, wenn es keine wichtigeren Probleme gibt. Sonst entwickeln sich Scheindebatten wie bei der Cannabis-Legalisierung, die von den echten Baustellen ablenken.dpaZur PersonDer Virologe Hendrik Streeck begann seine akademische Karriere in Berlin: Er studierte Musikwissenschaften an der Freien Universität und Medizin an der Charité, bevor er in Bonn promovierte und für einige Jahre in den USA an der renommierten Harvard Medical School forschte und lehrte. Seit 2015 ist er zurück in Deutschland und leitete zunächst das Institut für HIV-Forschung am Uniklinikum Essen. 2019 nahm er seine heutige Position als Chef der Virologie des Uniklinikums Bonn an. Als solcher war Streeck unter andrem Mitglied des Corona-Expertenrats der Bundesregierung.Nun: Manche Krankenkassen und Ärzte bewerten E-Zigaretten bei Kindern inzwischen als Einstiegsmittel Nummer eins in die Nikotinsucht – und das Rauchen ist immer noch für mehr Todesfälle verantwortlich als jeder andere Risikofaktor…Natürlich ist Rauchen schädlich, das wissen wir alle, und es verursacht auch für das Gesundheitssystem hohe Kosten. Das ist aber aktuell nicht unser akutes Problem: Unser Gesundheitswesen kollabiert gerade! Die Menschen haben gerade doch nicht Angst davor, dass ihre Kinder zu früh mit dem Rauchen anfangen. Sie haben Angst, dass ihre Gesundheit zum Produkt wird, Kliniken wegrationalisiert werden und sie keine Behandlung mehr bekommen, Antibiotika nicht mehr zur Verfügung stehen, Ärzte und Pfleger zu wenig Zeit für sie haben und Deutschland in der Forschung den Anschluss an die Spitze verliert. Das sind die großen Themen, nicht der Zugang zu Zigaretten oder Marihuana.Die Krankenhausreform setzt genau da an. Mit ihr will Lauterbach die Versorgung durch eine kleinere Zahl stärker spezialisierter Kliniken sichern. Würden Sie sein Gesetz nach der Wahl sofort ändern – oder zunächst abwarten, wie es sich auf die Kliniklandschaft auswirkt?Ich möchte erst einmal einen Schritt zurückgehen. Gesundheit sollte über den Parteigrenzen stehen und nicht mehr für eine populistische Spaltungspolitik missbraucht werden. Das haben wir in der Pandemie extrem erlebt. Wir müssen gerade beim Thema Gesundheit, Menschen und Interessengruppen zusammenführen – Kliniken, Ärzte, Pflegeverbände. Das hat mir in dieser Wahlperiode sehr gefehlt. Das Ziel muss ein leichterer Zugang zu moderner Medizin und zu besseren Behandlungsmethoden sein. Da dürfen wir auch keine Angst vor Reformen haben. Aber sie gelingen nur dann, wenn wir alle gemeinsam besprechen, welche Baustellen wir sehen.Das klingt nach längerem Prozess. Die Krankenhausreform aber tritt jetzt in Kraft – und gerade in ländlichen Regionen sorgen sich die Menschen um die Versorgung in der nahen Zukunft, weil Kliniken pleitegehen könnten. Experten rechnen damit, dass von den gut 1.800 Kliniken in Deutschland nach der Reform elf Prozent wegfallen könnten.Das muss gar kein langer Prozess sein… Als Arzt lernt man, im Notfall weitreichende Entscheidungen im Team und mit allen Betroffenen schnell zu treffen.Die Krankenhausreform Lauterbachs hat für viel Kritik gesorgt.Patrick Pleul/dpa Hendrick Streeck:„ Wir müssen die Gesundheitskompetenz der Menschen wieder stärken“ An den vielen Lobbygruppen im Gesundheitswesen haben sich schon viele Minister die Zähne ausgebissen. Sie trauen sich zu, die Interessen in kürzester Zeit in Einklang zu bringen?Das kann ich Ihnen nicht versprechen, aber mir geht es um Folgendes: Wir haben zweifelsfrei zu viele Krankenhäuser und zu viele Betten. Durch das neue Vergütungssystem schaffen wir aber ein System, in dem Kliniken mit niedrigen Fallzahlen die wirtschaftliche Basis entzogen wird, vor allem in ländlichen Gegenden. Wir sollten Standortentscheidungen strukturiert planen und nicht dem wirtschaftlichen Druck überlassen. Die Steuerung gehört in die Hände der Bundesländer, die nach regionalem Bedarf auch ambulante Strukturen finanziell unterstützen können. So, wie die Reform jetzt angelegt ist, geht von ihr das Signal aus: Die Gesundheit ist nicht das Wichtigste, sondern nur ein Produkt der Wirtschaftlichkeit.Nicht mehr durchsetzen konnte der Gesundheitsminister sein „Gesundes-Herz-Gesetz“. Während er sonst die Selbstverwaltung im Gesundheitswesen hochhielt, wollte er damit politisch eingreifen, um bestimmte Behandlungen gegen Herzerkrankungen durchzusetzen – halten Sie einen solchen Eingriff für richtig?Ein solcher Eingriff in die Selbstverwaltung der Ärzteschaft wäre ein Novum. Natürlich ist es richtig, etwas gegen Herzerkrankungen zu tun. Aber es wird schnell populistisch, wenn die Politik Behandlungen vorgeben will, über die normalerweise die Medizin entscheiden sollte. Die politischen Aufgaben sind ganz andere. Wir müssen die Gesundheitskompetenz der Menschen wieder stärken – heute kommen viele in die Notaufnahme, weil sie zu Hause gar kein Fieber mehr messen können. Und wir müssen viel mehr auf Prävention setzen. Das bedeutet nicht nur, mal einen Apfel zu essen. Da fehlt es vor allem an der öffentlichen Kommunikation.Um Prävention und Aufklärung soll sich ein neues Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit (BIÖG) kümmern. Dazu will Minister Lauterbach das Robert-Koch-Institut (RKI) zerschlagen und auf Infektionskrankheiten beschränken. Ist das der richtige Weg?Diese Aufspaltung ist falsch. Ob es um übertragbare oder nicht übertragbare Krankheiten geht, um Prävention oder gesundheitliche Aufklärung: Die Aufgaben gehören gebündelt und gestärkt ins RKI. Wichtig ist, dass das Institut unabhängiger vom Ministerium wird. Bei der wissenschaftlichen Politikberatung darf es nicht länger weisungsgebunden sein. Das würde auch das Vertrauen in das RKI erhöhen.Offenbar verhinderte Lauterbach im Frühjahr 2022 persönlich, dass das RKI seine Corona-Risikoeinschätzung bereits deutlich früher herabsetzte. War es angemessen, dies politisch zu entscheiden – oder hätte der Minister dem RKI die Entscheidung überlassen sollen?Wenn ein Minister wissenschaftliche Beratung ignoriert, um persönliche Präferenzen durchzusetzen, wird deutlich, wie dringend wir eine Reform des Robert-Koch-Instituts brauchen. Gerade in der Wissenschaft und im Gesundheitswesen braucht es Unabhängigkeit und klare Orientierung an Fakten, nicht an politischen Befindlichkeiten. Bei der jetzigen Regierung ist Gesundheitspolitik zu oft zum Spielball individueller und politischer Interessen ausgenutzt worden. Wir brauchen mehr Wissenschaft in der Politik – damit Gesundheit und Wissenschaft endlich wieder die Priorität bekommen, die sie verdienen.Lars Schaade, Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI), spricht bei einer Pressekonferenz nach einem Runden Tisch zu Lösungsmöglichkeiten einer besseren Versorgung für Long-Covid-Erkrankte.Christophe Gateau/dpaSollte es mit dem Bundestagsmandat klappen: Welche Rolle streben Sie an – Hinterbänkler, gesundheitspolitischer Sprecher, Gesundheitsminister? Oder reizt Sie ein ganz anderes Politikfeld?Diese Spekulationen sind ja ganz nett, aber so funktioniert Politik nicht – das ist kein Posten-Buffet. Mein Pitch ist neben der fachlichen Expertise sicher auch das „Wie“, dass ich aus der Wissenschaft und meinem Lebensweg mitbringe. Im Angesicht der großen Herausforderungen sind eine wissenschaftliche Sachlichkeit und auch eine gewisse sturmgeprüfte Standhaftigkeit hilfreich, wenn wir die großen Brocken angehen wollen. Ich möchte aber zuerst einmal in den Bundestag kommen und für die Bonner da sein. Und natürlich werde ich hier und darüber hinaus meine Expertise bei den Themen Gesundheit und Wissenschaft einbringen.Zur CDU kamen Sie vor einigen Jahren in einer weinseligen Runde, Ex-Gesundheitsminister Jens Spahn soll zu später Stunde plötzlich einen Mitgliedsantrag aus der Tasche gezogen haben. Welche Argumente hatte er, um Sie in die Partei zu locken – abgesehen vom Wein?Ich war vorher schon CDU-nah. Selbst als ich neun Jahre in den USA lebte, habe ich mich sehr viel mit der deutschen Politik beschäftigt und meine Heimat neu lieben gelernt. Ich habe in dieser Zeit sogar ein Buch über die deutsche Wissenschaftspolitik geschrieben, das ich nie veröffentlicht habe. Mein Interesse an Deutschland war also immer da, ich würde von einem gesunden Patriotismus sprechen. Mir geht es darum, mich für dieses Land einzusetzen und dabei unsere Kultur nicht zu vergessen, die auf christlichen Werten basiert. Sie wirken wie ein Klebstoff, der die Gesellschaft zusammenhält. Und das repräsentiert für mich keine andere Partei in dem Maße wie die CDU.Corona-Politik: Wir brauchen juristische Aufarbeitung statt kollektiver VerdrängungVon Sebastian LucentiOpen Source10.10.2024 Corona-Aufarbeitung: Enquete-Kommission „wohl bestes Instrument“ Der neue Bundestag wird sich wohl auch mit einer Aufarbeitung der Corona-Pandemie befassen, nachdem sich die Ampelkoalition nicht auf ein Format dafür verständigen konnte. Wie würden Sie das angehen?Zunächst ist das etwas, das nicht in den Wahlkampf gehört, genau wie Long Covid oder die Frage nach einer Änderung des Paragraphen 218 [die Regelung zum Schwangerschaftsabbruch im Strafgesetzbuch; Anm. d. Red.]. Über diese Themen dürfen wir keine populistische Spaltpolitik machen. Nach der Wahl sollte eine Aufarbeitung dann so objektiv wie möglich erfolgen, auf Ebene der Politik, der Wissenschaft und der Medien. Wir als Politik entscheiden darüber, was wir aus einer Krise machen: Schauen wir voller Gram auf Schuldige oder münzen wir die schwere Zeit produktiv in etwas um, von dem wir später sagen können, es habe uns geholfen, uns viel besser aufzustellen. Letzteres sehe ich natürlich auf meiner Agenda. Wir können das, wenn wir es richtig angehen!Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz zusammen Mit Alexander Dobrindt (CSU) im Bundestag. Hendrick Streeck kandidiert für die CDU im nächsten Bundestagswahlkampf.Bern Elmenthaler/imagoIn welcher Form sollte die Politik das angehen – mit einem Untersuchungsausschuss, einer Enquete-Kommission, einem Bürgerrat?Einen Bürgerrat halte ich für vollkommen falsch, weil dort jeder seine Pandemieerlebnisse für das Maß aller Dinge halten würde. Ein Untersuchungsausschuss wäre gleich etwas Rechtliches. Ob man zum Beispiel Schulschließungen als kleineres Übel ansieht oder Infektionen, ist aber eine Abwägung und keine Frage von Recht und Unrecht. Hier gilt es, daraus zu lernen. Die Enquete-Kommission in Nordrhein-Westfalen erlebe ich zwar nicht als sehr zielführend, dennoch ist sie auch auf Bundesebene wohl das beste Instrument. Entscheidend ist zu hinterfragen, wie wir wissenschaftliche Politikberatung organisieren und wer am Ende die Verantwortung für solche Entscheidungen in der Krise trägt. Es darf nicht wieder vorkommen, dass sich Politik am Ende hinter der Wissenschaft versteckt.Für die wissenschaftliche Aufarbeitung hat der Charité-Virologe Christian Drosten vorgeschlagen, Experten aus dem Ausland zu beauftragen. Alle, die in Deutschland eine Rolle spielten – also Sie und auch Drosten selbst – sollten außen vor bleiben. Eine gute Idee?Drosten sagt das vielleicht, weil er glaubt, dass sich seine Meinung dann durchsetzt. Daran habe ich meine Zweifel. Dennoch würde ich die Aufarbeitung in Deutschland belassen. Unsere spezifische Reaktion auf die Pandemie kann man hier besser erfassen als aus dem Ausland heraus. Fehleinschätzungen in der Pandemie: „Es geht nicht um das Recht haben, sondern den Daten zu folgen“ Jede Aufarbeitung beginnt mit einer kritischen Betrachtung der eigenen Rolle. Warum üben Sie in Ihrem Buch zur Corona-Pandemie so wenig Selbstkritik, obwohl Sie sich in wichtigen Fragen geirrt haben? Anfang 2020 gingen Sie beispielsweise davon aus, dass Corona harmloser als eine Grippe ist, Sie …Moment! Sie zitieren mich leider falsch. Ich habe gesagt, dass nach den „bisher vorliegenden Daten“ die Einschätzung so lautet. Dass sich die Einschätzungen ändern, weil sich Datenlagen ändern, ist normal in der Wissenschaft. Hier sollte die Gesellschaft eher von der Wissenschaft lernen: Es geht nicht um das Recht haben, sondern den Daten zu folgen.Die Entwicklung kam jedoch anders – wie auch bei der zweiten Welle im Herbst 2020, die Sie im Mai 2020 nicht kommen sahen……auch hier waren zu dem Zeitpunkt die Aussagen von Drosten und mir gleichlautend, aber die Aussage wurde medial nur mir zugeschrieben. Im Juni, Juli wies ich bereits darauf hin, dass es zu einer zweiten und dritten Welle kommen wird. Krisenzeiten und ihre öffentlichen Debatten sind komplex. Wir sollten mittlerweile über Fortschritte und Lehren diskutieren und uns nicht in Debatten-Forensik verlieren.RKI-Protokolle: Warum wurden Genesene zur Impfung gedrängt?Von Bastian BaruckerOpen Source14.10.2024Ein anderes Beispiel: Noch vor Beginn der Impfung, die das Risiko schwerer Verläufe senkt, setzten Sie auf Herdenimmunität, das hätte wohl deutlich mehr Todes- und Long-Covid-Fälle bedeutet. In einer neuen Pandemie ist niemand vor Fehleinschätzungen gefeit – warum aber sparen Sie dies in Ihrem Buch aus?Ich habe ein ganzes Kapitel im Buch dem Thema gewidmet. Einen Blick auf Fehleinschätzungen scheue ich nie. Das Buch hat ein anderes Ziel: Es ist der Blick nach vorne, ohne in die gefährliche Falle der Anklage zu kommen, welche dann wieder nicht mehr zurücklässt als Spaltung.Sie kritisieren die Rolle von Wissenschaftsjournalisten, in Ihrem Buch heißt es: Aus der Bewertung wissenschaftlicher Ergebnisse sollten sie sich „heraushalten“. Reden Sie da einer Zensur das Wort?Nein, keine Zensur. Aber diesen Punkt hätte ich deutlicher machen sollen: In der Pandemie haben Journalisten vorab veröffentlichte Studien genommen und sie als gut oder schlecht bewertet, bevor sie andere Wissenschaftler mit ihrer Expertise begutachtet haben. Ich würde mir nie anmaßen, Publikationen zu bewerten, die nicht aus meinem Fachbereich kommen – manche Wissenschaftsjournalisten haben dies aber häufig getan. So wurde die Idee der No-Covid-Strategie als der „richtige“ Weg dargestellt, obwohl die Strategie gar nicht aus der Epidemiologie kommt.Wie ordnen Sie Corona heute im Vergleich zur Grippe ein?Es ist stärker und deutlich tödlicher als eine saisonale Grippe, aber nicht so schlimm wie Ebola, wie es von einigen dargestellt wurde.Eine Krankenpflegerin legt auf der Isolierstation für Coronavirus-Behandlungen einer Klinik Schutzkleidung an, bevor sie ein Patientenzimmer betritt, 2020.Jens Büttner/dpaNeben Todesfällen sind die Langzeitfolgen ein Thema. Nicht nur nach Corona, sondern auch nach anderen Infekten und seltener nach der Impfung wird ein Teil der Menschen langfristig krank, schlimmstenfalls entwickeln sie die chronische Multisystemerkrankung ME/CFS. Die Ampel hatte den Betroffenen interdisziplinäre Ambulanzen versprochen, dies aber nie eingelöst – die Union drängte mit einem Antrag im Bundestag auf eine Umsetzung. Kommt die nun nach der Wahl, falls die Union regiert?Solche Themen sollten wir aus der Politik herausnehmen und in die Selbstverwaltung der Ärzte geben. Die Politik muss Rahmenbedingungen schaffen, dass das medizinische Fachpersonal Ihren Aufgaben bestmöglich nachkommen kann.Ampel sagt Corona-Aufarbeitung ab: Wer hätte das gedacht?Von Ruth SchneebergerGesundheit13.10.2024 Die WHO muss reformiert werden: „Alles zu politisch geworden“ In der Selbstverwaltung liegt es bereits heute – das Ergebnis: Die Long-Covid-Ambulanzen sind überlaufen und für andere Betroffene, die keine Corona-Infektion nachweisen können, fehlen die Anlaufstellen fast gänzlich.Mein Eindruck ist: Da wurde ein so großer Druck von der Politik aufgebaut, dass sich die Mediziner gar nicht mehr an das Thema herantrauen. Der richtige Weg wäre, dass Ärzte und Wissenschaftler ein Problem beschreiben und auf dieser Basis ambulante Strukturen geschaffen werden. Offenbar gibt es aber kaum Ärzte, die hier den dringenden Bedarf sehen. In den Medien werden nicht evidenzbasierte Behandlungen propagiert, die die meisten Ärzte ablehnen. Wenn die politische Forderung am Anfang steht, ist das falsch.Ein weiteres, umstrittenes Thema ist der von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) geplante, internationale Pandemievertrag. Würden Sie einem zukünftigen Gesundheitsminister empfehlen, das Abkommen voranzutreiben?Ich halte ein Abkommen zum Schutz vor einer nächsten Pandemie für richtig, sehe aber, dass wir bei den laufenden Verhandlungen in einer Sackgasse stecken. Der erste Entwurf war eine reine Wunschliste der südlichen Länder, die für die Industrieländer überhaupt keinen Sinn machte. Hier ist auch von der letzten Regierung falsch verhandelt worden. Ich sage: Auch internationale Gesundheitspolitik muss mit der Sensibilität diplomatischer Außenpolitik geführt werden. So wie es eine Wirtschafts-Außenpolitik gibt, müssen wir auch auf internationalem Parkett die eigenen Interessen bei Fragen der Gesundheit, dem Austausch von Wissen und Forschungsergebnissen oder internationaler Prävention vertreten. Das ist ein Parkett, auf welchem die Ampel leider ausgerutscht ist.Weltgesundheitsgipfel in Berlin: „Niemand ist sicher, solange nicht alle sicher sind“Von Ruth SchneebergerGesundheit16.10.2024Sollte man bei den Verhandlungen also zurück auf null gehen?Das denke ich schon, ja. Und zuerst muss die WHO selber reformiert werden. Wie sie Gelder und Posten verteilt, welche Abhängigkeiten von einzelnen Ländern und Geldgebern bestehen – das ist alles viel zu politisch geworden. Dass sich die WHO auch noch in den Israel-Gaza-Krieg einmischt und Position bezieht, halte ich für falsch, das ist nicht ihre Aufgabe. Die WHO sollte wieder eine technische Einrichtung sein, die allen Ländern der Welt dient, und keine politische Aufgabe übernimmt. Wenn das erreicht ist, können wir auch einen guten Pandemievertrag verhandeln.Haben Sie Feedback? Schreiben Sie uns! briefe@berliner-zeitung.de

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