HomeBerlinDiagnose Schlaganfall mit 32: Die zwei Leben der Magdalena Gössling 32-jährige Berlinerin: Wie sie nach einem Schlaganfall ins Leben zurückfand Sie arbeitete als Ärztin, war schwanger mit dem zweiten Kind, als sie aus allem herausfiel. Heute ist sie Autorin. Begegnung mit einer Frau, die vieles neu lernen musste.Cornelia Geißler15.04.2025 15:22 UhrBuchautorin Magdalena Gössling in Berlin Anfang AprilEmmanuele Contini/Berliner ZeitungDas Buch von Magdalena Gössling beginnt mit einem Satz aus der Vergangenheit: „Ich will schreiben, aber ich kann es nicht mehr.“ Durch das literarische Präsens wirkt er unmittelbar. Auch wenn es gleich darauf heißt, „Ich will sprechen. Doch Sprachlosigkeit hüllt mich ein“, ist nicht die Gegenwart der Autorin gemeint. Was aber heute noch stimmt, kommt dann: „Der Schlaganfall hat alles verändert.“32 Jahre alt war Magdalena Gössling, gerade mit Büroarbeiten zu Hause beschäftigt, als sie merkte, dass sie die Kontrolle über ihren Körper verlor. Sie konnte noch auf die Nummer ihres Mannes im Telefon tippen, aber schon nicht mehr sprechen. Rettungssanitäter, Notfallarzt, Krankenhaus, Operation, Rehabilitation, Logopädie – die heute 38-jährige Frau hat einen langen Weg zurückgelegt, der sich in ihrem Buch „Wieder werden. Eine Geschichte über Verlust und Erneuerung“ nachverfolgen lässt. Es erscheint dieser Tage bei Rowohlt Polaris.Wir treffen sie in ihrem Zuhause in Kreuzberg. Hell und zugleich gemütlich ist es hier, eine Wohnung, in der Zeichnungen und Spielsachen auf die Gegenwart von Kindern deuten, viele Bücher auf die Interessen der Erwachsenen. Vorher haben wir uns per E-Mail verständigt, dass es in einem Café vielleicht zu unruhig für ein Gespräch sein könnte. Während die Kinder in Schule und Kita sind, können wir ungestört sprechen. Jeder vierte Schlaganfallpatient ist im berufsfähigen Alter Man könnte Magdalena Gössling als Beispiel für ein Wunder bezeichnen. Aber Wunder gibt es ja nicht. Ein Schlaganfall, Folge einer plötzlichen Durchblutungsstörung des Gehirns, ist ein medizinischer Notfall. Etwa 270.000-mal pro Jahr wird er in Deutschland diagnostiziert, kann theoretisch jeden Menschen treffen. Laut den von der Charité veröffentlichten Daten ist jeder vierte Betroffene im erwerbsfähigen Alter, rund fünf Prozent von ihnen sind jünger als 40 Jahre. „Jeder Schlaganfall ist anders. Wenige Betroffene sind nach einigen Tagen wieder fit, bei anderen bleiben schwerste Behinderungen“, heißt es auf der Internetpräsenz der Deutschen Schlaganfall-Hilfe.Bei Magdalena Gössling ging es zunächst darum, sie so weit zu stabilisieren, um eine Operation sicher durchzuführen. Die Gehirnblutung war durch einen Kurzschluss zwischen Arterie und Vene entstanden – ähnlich wie bei einer Krampfader. Die Operation sollte das Hämatom entfernen, damit das Gehirn nicht mehr gequetscht wurde und sich erholen konnte. Zudem sollte dieser Kurzschluss beseitigt werden, sodass erneute Blutungen nicht mehr auftreten können. Sie war zum Zeitpunkt des Schlaganfalls in der 25. Schwangerschaftswoche; daher musste das Vorgehen gut geplant werden. Nach der OP wurde sie Tag für Tag beweglicher, lernte wieder, sich zu verständigen, konnte sich auf die Geburt der zweiten Tochter vorbereiten. Die Patientin wurde versorgt und hat selbst sehr viel getan, Abläufe geübt, den Körper trainiert, sich immer neu herausgefordert.Plötzlich gelähmt: Der Schriftsteller Hanif Kureishi muss seine Tagebücher diktierenTwitter06.02.2023Gabriele von Arnim: Oh, wie man ihn liebt, den Betrug!Charité15.04.2021Verlust und Erneuerung: Vor dem Ereignis hatte Gössling einen Beruf, für den sie viele Jahre studiert und sich weitergebildet hatte. Sie war als Ärztin in der plastischen Chirurgie und Handchirurgie tätig. Obwohl sie einem bei der Begegnung heute als „normal“, also gesund, erscheint, kann sie diese Präzisionsarbeit nicht mehr ausüben. Und auch andere Fähigkeiten, die im allgemeinen Berufsleben nötig sind, hat sie verloren. Sie braucht enorm viel Kraft und Zeit für alles, was mit Sprache und Zahlen zu tun hat. Zudem kann sich nur kurz konzentrieren. Sie ist schnell überreizt und schlecht belastbar.Das Buch zeigt ihre Sehnsucht nach dem alten Leben. Da ist die große Enttäuschung, als eine Ergotherapeutin in der Reha ihr froh mitteilt, sie habe eine Aufgabe bereits „knapp unter dem Durchschnitt“ erledigt. Es galt, Klötzchen von einer Kiste in eine andere zu sortieren. Niemals hätte sie sich zuvor mit dem Durchschnitt zufriedengegeben; nicht in der Schule, im Studium, in der Hockeymannschaft, nicht bei der Arbeit. Da ist die Erschütterung, als ihr Mann sagt, er glaube, dass die Chancen, wieder in ihr Team ins Krankenhaus zurückzukehren, bei 30:70 Prozent lägen. Sie wollte es andersherum hören. Er liebt sie und er ist ehrlich, denn er ist selbst Arzt, Neurologe sogar. Er denkt an die nicht sichtbaren Folgen, die ihre Leistungsfähigkeit sehr einschränken. Das Schreiben war erst Therapie Das Buch zeigt die Schritte in ihr neues Leben und Reflexionen darüber. Wir sprechen darüber, nachdem sie Wasser gesprudelt und Gläser auf einen kleinen Tisch neben dem Balkonfenster gestellt hat. Berlin sieht schön aus von hier oben.Sie hat immer gern gelesen, das fiel ihr dann schwer. Zwischen den Wörtern fehlte die Verbindung. Da halfen Hörbücher. Sie versuchte es mit Schreiben. „Es war am Anfang erst einmal Therapie“, sagt Magdalena Gössling. „Als ich anderthalb Jahre nach dem Schlaganfall wieder erste Worte und Sätze schreiben konnte, ging es darum, wie ich mich gerade fühle.“ Nach zwei Jahren etwa dachte sie, es könnte sinnvoll sein, Erinnerungen an das Erlebte aufzuschreiben, es schien ihr alles noch relativ nah. Sie habe früher schon Tagebuch geführt, einschneidende Erlebnisse festgehalten, so auch das Geburtserlebnis ihrer älteren Tochter. „Und dann kam dieses Glücksgefühl beim Schreiben. Es macht mich glücklich, wenn ich das passende Wort, die passende Formulierung finde.“Weil der Mensch nun mal Freude gern teilen möchte, habe auch sie das Geschriebene nicht mehr nur für sich behalten wollen, sondern im Familien- und Bekanntenkreis ein paar Leuten zu lesen gegeben. Weil die es interessant fanden, begann Magdalena Gössling mit der Textarbeit. So passierte ihre Verwandlung von der Handchirurgin über die Patientin zur Autorin. Sie sagt: „Es war stufenweise, es kam aus der Therapie und der Verarbeitung des Ereignisses hin zu dieser Sprachfaszination.“„Königin außer Dienst“: Vom Leben nach einem SchlaganfallNiederlande29.01.2021Joachim Meyerhoffs Schlaganfall-Buch: „Hamster im hinteren Stromgebiet“Joachim Meyerhoff10.09.2020Im Buch heißt es: „Das Hochgefühl beim Schreiben erinnert mich an das Hochgefühl, das ich beim Operieren empfunden habe.“ Sie meldet sich als Gasthörerin an der Freien Universität an, besucht Vorlesungen und Seminare, die mit Sprache zu tun haben, Literaturwissenschaft, Sprachphilosophie, Linguistik, Soziolinguistik. „So hat es eine andere Ebene bekommen“, sagt sie. Wenn sie so erzählt, scheint das Schreiben kein Ersatz für den Verlust des geliebten Berufs zu sein, sondern eine Neuerfindung ihrer Person, eine Selbstermächtigung. Stimmt das? „Ja, tatsächlich“, sagt Magdalena Gössling. „Wenn wir aufwachsen, erscheint uns Sprache als naturgegeben. Ich habe jetzt ein ganz anderes Bewusstsein dafür, was man wie mit Sprache ausdrücken kann. Und ich bin mir auch darüber im Klaren, was man ohne Sprache ausdrücken kann. Ich lege jetzt einen anderen Wert auf Kommunikation.“Bücher von Ärztinnen wie Yael Adler („Genial ernährt“), Mandy Mangler („Das große Gynbuch“) oder Sheila de Liz („Unverschämt“) sind derzeit sehr beliebt, aber „Wieder werden“ gehört nicht in diese Reihe. Die Autorin ist zwar Medizinerin, Neurologie ist aber nicht ihr Fachgebiet. Der Verlag hat dem Buch keine Genrebezeichnung gegeben. Es ist autobiografisch, betrifft jedoch nur einen bestimmten Lebensabschnitt, es entwickelt sich von der Schilderung der konkreten Abläufe zum Blick ins Innere, weitet sich zur Betrachtung des Umfelds. Im Buchhandel wird es als erzählendes Sachbuch eingeordnet oder als Memoir. Daniel Schreiber als Vorbild „Wieder werden“ ist nicht so lustig wie Joachim Meyerhoffs Schlaganfall-Roman „Hamster im hinteren Stromgebiet“, nicht so poetisch wie Kathrin Schmidts Roman „Du stirbst nicht“, 2009 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Aber es hat auch lustige Momente. Und es ist durchaus literarisch. Magdalena Gössling nennt den Autor Daniel Schreiber ihr „großes Vorbild“ – obwohl seine Bücher wie „Allein“ oder „Zeit der Verluste“ nicht mit Krankheit zu tun haben. Es geht ihr um seinen Stil. So wie er Erlebtes erzähle und Gedanken darlege, könne er Dinge bei anderen hochholen, die diese für sich selber nutzen können. „Das finde ich an dieser Art des autobiografischen Schreibens so faszinierend“, sagt sie. „Es bewirkt die Auseinandersetzung mit einem Thema, die aber nicht von außen kommt, indem es heißt, du musst dies so oder so machen. Sondern es löst etwas in dem Menschen aus.“Einen Ratgeber über Schlaganfälle habe sie nie gelesen, sondern immer nach etwas gesucht, das sie im Inneren erreicht. Viel Mut gefunden habe sie in dem Buch „Das Leben ist ein vorübergehender Zustand“ von Gabriele von Arnim. Die Autorin erzählt von den zehn Jahren an der Seite ihres von einem Schlaganfall schwerst betroffenen Mannes. Magdalena Gössling sagt: „Ich hatte manchmal das Gefühl, ich kann die Fragen beantworten, die sie in ihrem Buch stellt.“Magdalena Gössling bei unserem Gespräch in ihrer WohnungEmmanuele Contini/Berliner ZeitungGabriele von Arnim hatte damals eine ganze Gruppe von Menschen, die regelmäßig kamen und ihrem Mann vorlasen. Selber lesen konnte er nicht mehr, war aber geistig noch genauso interessiert wie in seiner aktiven Zeit als Journalist. In Magdalena Gösslings Buch spielt das Netz aus Vertrauten auch eine sehr große Rolle. Am engsten ist der Kontakt zu ihrem Mann und zu ihrer Mutter, die Geschwister kommen dazu, die engen Freundinnen – drei von ihnen kennt sie seit der ersten Klasse. Auch zu den früheren Kollegen gab und gibt es noch Kontakt.Als sie selbst noch mit ihrer Rolle gehadert hatte, kam ihr eine Begebenheit aus dem Kindergarten zu Hilfe. Ihre ältere Tochter sollte, als sie sechs war, der Erzieherin zu einem Bild zum Muttertag Stichworte nennen. Eine Rubrik hieß „Das arbeitet meine Mutter“. „Da hat sie gesagt: Sie schreibt. Ich war so froh, dass sie es als meine Tätigkeit wahrgenommen hat.“ Magdalena Gössling spricht nicht von einem Wunder, sagt aber, sie habe Glück gehabt, und wollte sich nicht zu Hause verkriechen. In einem Co-Working-Space hat sie sich einen Platz gemietet, das war ein Tipp von einer Freundin. Nun kann sie aus dem Haus gehen, um zu arbeiten – obwohl sie als „berufsunfähig“ erklärt wurde.Manchmal habe sie sich beim Schreiben wie zwischen zwei Stühlen befunden – wenn es ums Gesundheitswesen ging. „Ich habe als Patientin ganz andere Interessen als die Mediziner:innen. Ich weiß, warum die Ärzt:innen nur so kurz in den Zimmern sind. Es gibt einfach so viele Dinge zu erledigen, dass oft keine Zeit bleibt, die Patientin oder den Patienten ganzheitlich zu betrachten. Auch die Menschen, die da arbeiten, haben Bedürfnisse und stoßen an Grenzen.“Seit etwa zwei Jahren geht sie zu einer Selbsthilfegruppe der Schlaganfall-Allianz, die sich speziell an jüngere Betroffene wendet. Das war noch einmal ein großer Schritt, den Kreis der Vertrauten zu verlassen und sich Fremden gegenüber zu öffnen. Inzwischen spüre sie da eine Zugehörigkeit. Denn mit den früheren Kollegen verbinde sie ohne die Arbeit natürlich weniger, im Literaturbetrieb komme sie erst langsam an. In der Selbsthilfegruppe werde sie nun auch einige organisatorische Aufgaben übernehmen. „Es ist schön dort. Wenn ich da von mir erzähle, weiß ich, dass ich auf jeden Fall verstanden werde. Für mich ist dies kein Ort, wo ich Angst habe, zu versagen.“Auch wenn man es ihr also nicht ansieht, wie sie da im Schneidersitz auf dem Sofa hockt und ohne zu stocken die Fragen der Journalistin beantwortet, gebe es noch immer schwierige Momente. So könne sie sich nicht gut Notizen während eines Gesprächs machen. „Am Telefon meine Krankenkassennummer aufzusagen, das ist ganz schlimm“, sagt sie und lacht ein bisschen. Und vielleicht war es ganz gut, dass „Wieder werden“ erst nach der trubeligen Leipziger Buchmesse erschienen ist. Ihre ersten Lesungen werden in kleinen Buchhandlungen sein. „Ich versuche, gut auf mich achtzugeben, damit ich mich nicht überfordere“, sagt Magdalena Gössling. Mit dem Buch tritt sie nun in die Öffentlichkeit. Nicht als Ärztin, sondern als Autorin. Der letzte Satz lautet: „Ich gebe meine Geschichte frei.“ Lesen Sie mehr zum Thema BerlinKulturLiteraturStilKreuzbergCharitéBezirkeGesundheit & WohlbefindenRatgeber