HomeKultur„Derselbe Ort, eine andere Zeit“: Zeitreise auf der Karl-Marx-Allee mit dem Film „Die Allee“ „Derselbe Ort, eine andere Zeit“: Zeitreise auf der Karl-Marx-Allee mit dem Film „Die Allee“ Sven Boeck hat einen melancholischen Film über eine Straße gemacht, in dem er seine Biografie mit den Zeitläuften verbindet.Susanne Lenz23.10.2024 15:42 UhrBlick von der Karl-Marx-Allee, im Hintergrund der FernsehturmPond5images/imago„Die Allee“ hat der Dokumentarfilmer Sven Boeck seinen Film genannt. So als gäbe es nur die eine. Seine Allee ist die Karl-Marx-Allee in Berlin, die vom Alexanderplatz bis zum Frankfurter Tor reicht, aber auch die Frankfurter Allee, die einst zur Straße der Befreiung wurde, weil über sie Soldaten der Roten Armee in die Stadt vorstießen. Dieser Allee hat Boeck einen Essayfilm gewidmet, in dem er seine persönlichen Erinnerungen an die Straße mit ihrer Geschichte verknüpft. Ein Satz, der mehrmals fällt: „Derselbe Ort, eine andere Zeit.“ Es ist ein langsamer, von Melancholie durchdrungener Film, aber nicht von DDR-Nostalgie, der vor Pathos nicht zurückschreckt, etwa wenn am Ende Gustav Mahlers Lied „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ erklingt, während auf der Karl-Marx-Allee Feuerwerk ein neues Jahr begrüßt.Sven Boeck, Jahrgang 1965, erinnert sich an das untergegangene Land, das auch Träume zerstören konnte. Mit einem solchen Traum beginnt der Film, es ist der Sommer 1981. Sven Boeck hat die Schule beendet, das Abschlussfest war in der Kantine hinter dem Haus für Elektrotechnik auf dem Alexanderplatz, mit seinem Freund und einem Mädchen geht er in der warmen Nacht über die Allee nach Hause. Sie setzen sich auf eine Bank und sprechen über den Sommer, die Ferien liegen vor ihnen: „Gemeinsam werden wir die Welt erobern.“Auf der Leinwand nächtliche Aufnahmen der Karl-Marx-Allee und am Ende der Satz: „So sehe ich die beiden nie wieder.“ Das Rätsel wird erst später aufgelöst: Am Montag nach der Abschlussfeier werden die Absolventen in ihre Schule bestellt, die Klassenzeitung beunruhigt die Schulleitung, der Inhalt, an dem sie sich stoßen, wird nicht genannt. Nur: Wenn das dem Klassenfeind in die Hände fällt. – „Sie brechen uns, wir sammeln die Klassenzeitung wieder ein, in ohnmächtiger Wut.“ Die Freunde, mit denen er den Sommer verbringen wollte, sieht Sven Boeck nie wieder.Sven Boeck zeigt neben neuen Aufnahmen Archivmaterial, etwa aus der Kinowochenschau „Der Augenzeuge“, produziert von der Defa, die bis 1980 erschien. Aufnahmen von 1953 zeigen, wie Berliner am Stalin-Denkmal an der damals noch nach ihm benannten Allee Blumen ablegen und um ihn trauern. 1961 wurde das Denkmal eingeschmolzen, die Allee umbenannt. Er zeigt auch Aufnahmen aus dem im Museum Falkensee aufbewahrten Nachlass von Heinz Krüger, der zu DDR-Zeiten als freier Fotoreporter einen ungeheuren Fundus geschaffen hat, darunter auch Alltagsaufnahmen, auf die Sven Boeck jetzt zurückgreifen konnte, genau wie auf eigenes Filmmaterial, denn er hat sich bereits Anfang der 90er-Jahre mit seiner Allee beschäftigt.Filmstill aus die „Die Allee“alleefilm Erinnerungen an das Haus des Kindes und die Militärparade auf der Allee Drei Anwohner breiten Erinnerungen aus, an das Haus des Kindes, in dem man um den 20. Jahrestag der DDR herum ausnahmsweise Matchboxautos kaufen konnte, an das Café dort, das Eltern nur in Begleitung von Kindern betreten durften. Eine Freundin von Sven Boecks Mutter berichtet von den Militärparaden, bei denen die Panzer, die über die Allee fuhren, alles zum Beben brachten. „Da half kein Ohropax.“ Ein Oberst, den sie darauf ansprach, habe ihr geantwortet: „Ja, wollen Sie nun Frieden oder nicht?“ Daran, dass in einem der Henselmann’schen Turmhäuser am Strausberger Platz die Schriftstellerin Alex Wedding lebte, erinnert eine kurze Schwarz-Weiß-Aufnahme, aber auch Sven Boecks Tante Lotte, nach dem Krieg Trümmerfrau, später Straßenbahnfahrerin, wohnte in einem der begehrten Häuser.Derselbe Ort, eine andere Zeit. Im einstigen U-Bahnhof Marchlewskistraße hat Sven Boeck Aufnahmen gemacht, als dort noch Wandbilder zur Geschichte Berlins die Wände schmückten und man auf einer Personenwaage sein Gewicht überprüfen konnte. „Gewogen und für zu leicht befunden“ ist sein Kommentar, der sich erschließt, wenn der in Weberwiese umbenannte Bahnhof auf der Leinwand erscheint, an dessen Wänden nun Reklametafeln hängen. Dabei hätte manches doch Gewicht genug gehabt.Die Premiere von „Die Allee“ findet im Rahmen eines nd-Filmclub-Specials am 23. Oktober im Kino Toni statt. An der anschließenden Podiumsdiskussion nehmen Paul Werner Wagner, Thomas Flierl, Sven Boeck und Klaus Schmutzer teil. Weitere Vorführtermine nennt die Webseite www.alleefilm.de. Am 25. Oktober 2024 um 19 Uhr eröffnet bei Fotopioniere in der Karl-Marx-Allee 87 die Fotoausstellung „Heinz Krüger“ mit Fotos aus der Stalinallee. Lesen Sie mehr zum Thema KulturKino & Streaming