HomePolitikBundestagswahl: Warum Neu-Parteien wie die AfD so erfolgreich sind Warum sind Neu-Parteien wie die AfD so erfolgreich? Deutschland ist transformationsmüde Viele politische Programme setzen auf Veränderung: auf grüne Revolutionen und mehr. Viele Deutschen wollen das nicht. Ein Gastbeitrag.Michael Andrick16.02.2025 06:02 UhrWahlkampfveranstaltung der Grünen in Berlin: Annalena Baerbock und Robert Habeck.IMAGO/Matthias GränzdörferIm Mittelwert der letzten acht Umfragen zeichnen sich im Vergleich zur Bundestagswahl 2021 massive Verschiebungen ab: Die Ampel-Parteien verlieren in Summe fast 19 Prozent der Stimmen. Die AfD gewinnt rund zehn, die Union rund sechs Prozent und das BSW, das 2021 noch nicht existierte, kann aus dem Stand mit fünf Prozent rechnen. Die „Sonstigen“ erhöhen sich wohl auch deshalb nur um rund ein Prozent gegenüber 2021. Warum diese massive Verschiebung?Sicher, es gibt die allgemeine Ampel-Enttäuschung und die konkreten Streitfragen des Tages, mit denen man sich das erklären kann: die umkämpfte Migrationspolitik, die schleppende Aufarbeitung der Corona-Periode, die Ukraine-Hilfen und die drückenden Energiepreise inmitten einer weltweit einmaligen „Energiewende“, an der den meisten Bürgern mittlerweile Zweifel gekommen sind. Je nach parteipolitischer Neigung mag man hier dies oder jenes hervorheben, und schon hat man seine Erklärung.Was Trump und JD Vance mit der Ukraine vorhaben: Man könnte sie in die EU aufnehmenInternationalesgesternDie Grünen und der neue deutsche MilitarismusPolitikgestern Die Transformationsgläubigen Doch was, wenn es eine tiefere Tendenz gäbe, die mit den politischen Themen des Tages gar nichts zu tun hat? Eine Art Untergrund-Strömung dieser Verschiebung, die sie im Großen und Ganzen anstatt Partei-für-Partei begreiflich machte? Eine solche tiefere Tendenz sehe ich im Transformationsglauben.Das Lager Regierenden in Bund und Ländern – SPD, Grüne, Linke, Union, FDP und BSW – haben tatsächlich (bis auf die Regierungs-Anfänger des BSW) eine politische Grundposition gemeinsam: Sie glauben an die Notwendigkeit gleich mehrerer Transformationen. Ihrer Ansicht nach bedarf es eines völligen Umbaus von Wirtschaft und Gesellschaft, und zwar auf mehreren Feldern zugleich.Aus ökologischen Gründen meint man, die gesamte Infrastruktur und Funktionsweise dieses Industrielands transformieren, also radikal neu und anders gestalten zu müssen. Wer die Notwendigkeit dieser „grünen“ Transformation bestreitet oder den Preis dafür zu hoch findet, der kann von Anhängern dieser Agenda schnell Etikette wie „Klimaleugner“ verpasst bekommen.Aus geopolitischen Gründen meint man, Deutschland müsse wieder eine kriegsfähige Armee aufbauen und sich zur militärischen Verteidigung einer nicht einfach völkerrechtlichen, sondern „wertegeleiteten“ internationalen Ordnung vor allem gegen Russland vorbereiten. Was der Kanzler „Zeitenwende“ nannte, ist ebenfalls eine Transformationsagenda. Wer z.B. Pazifist ist und sich eine nationalstaatlich fokussierte, allseitig kooperationsbereite Regierung wünscht, der zieht sich hier leicht den Vorwurf zu, ausländischen Kriegstreibern in die Karten zu spielen.Die aktuellen Regierungsparteien Deutschlands (außer des BSW) unterstützen schließlich auch noch eine Transformation der Gesundheitspolitik: Der Ausbau der weitgehend privat finanzierten Weltgesundheitsorganisation WHO zu einer globalen Leitstelle mit starken Befugnissen würde eine bisher nationalstaatlich kontrollierte Politik durch eine global und technokratisch verstandene „Gesundheitssicherheit“ ersetzen. Daran wird auch jetzt noch festgehalten, nachdem die USA und Argentinien aus der WHO ausgetreten sind und dies u.a. mit ihrer destruktiven Rolle während des Corona-Geschehens begründet haben.Die USA sind aus der WHO ausgestiegen: Auch in Europa wächst die Skepsis.Jim WATSON / AFPDonald Trump spricht mit Wladimir Putin über Frieden in der Ukraine: Die EU wurde blamiertInternationales13.02.2025Donald Tusk macht auf Trump light – und gibt an, wie viele Waffen Polen in den USA kauftInternationales14.02.2025 Weltversteher mit bösen Vorahnungen Unabhängig davon, wie man jedes dieser Transformationsprojekte einschätzt, dreierlei ist sicher: Eine Transformationserzählung drückt zum einen immer auch aus, dass der, der sie vorträgt, buchstäblich glaubt, die Welt verstanden zu haben – und folglich genau zu wissen, was für alle unumgänglich, unabweisbar, ja alternativlos zu tun sei. Das ist die strukturelle Überheblichkeit des Transformationsglaubens der aktuellen Regierungsparteien; das ist es, was zunehmend in der Mitte und im rechten Teil des Meinungsspektrums als Bevormundung unangenehm empfunden wird.Zweitens weht in den Transformations-Diskursen immer ein Wind der bösen Vorahnung: Angst vor dem Klimawandel, Angst vor ausländischer Invasion, Angst vor globalen Gesundheitsbedrohungen steht im Vordergrund, und diese Ängste werden für „Likes“ und Reichweite gern bedient und damit auch vermehrt. Und angstbelastete Diskussionen stehen immer in der Gefahr, in gegenseitige moralische Verurteilungen zu kippen und ebenso unproduktiv wie belastend zu werden.Drittens bedeutet die ständige paternalistische Ankündigung, alles dürfe nicht so weitergehen wie bisher oder aber es werde eine Katastrophe geben, alles müsse sich grundstürzend ändern und jeder „Vernünftige“ müsse das einsehen, eine latente Drohung an die Bürgerschaft: „Bekenne, oder du bist ein XYZ-Leugner!“ Die Angst, mit einer „falschen“ Meinung ins Abseits zu geraten, war noch nie so groß wie heute, wo laut Allensbach nur noch knapp über 40 Prozent der Deutschen frei und ungezwungen ihre politische Meinung ausdrücken.Wer Klimaproteste kritisiert, gilt schnell als Klimaleugner.EPD Veränderungen sind uns unsympathisch All diese Aspekte von Transformationsgeschichten haben gemeinsam, dass die Veränderungsdruck erzeugen. Das ist sowohl innerpsychisch wie auch sozial für das Gattungswesen Mensch unannehmlich. Evolutionär bedingt haben wir innerpsychisch eine sehr einfache, dem Überleben dienliche Reaktion auf die Begegnung mit allem Unbekannten: Stress.Um sich in Sicherheit zu halten, reagiert der Mensch auf reale oder auch nur vermutete Veränderungen zunächst mit der Ausschüttung von Botenstoffen, die das Reflexionszentrum des Gehirns kurzzeitig ausschalten, den Körper aber alarmieren, damit wir nötigenfalls mit Kämpfen, Fliehen oder Totstellen reagieren können. Schon die Begründung eines angeblichen Transformationsbedarfs zu hören oder entsprechende Bilder zu sehen, setzt also – egal, was wir zum Thema denken – einen Trigger, es löst innere Drangsal aus.In sozialer Hinsicht hat Machiavelli die Unattraktivität von Veränderungserzählungen gut auf den Punkt gebracht. Eine Regierung solle höchst vorsichtig mit Neuerungen sein, denn man mache sich stets „sichere Feinde“ aus denen, die sich im alten System wohlbefunden haben – und zugleich seien die Profiteure des neuen Systems nur „laue Freunde“, weil sie seine Vorteile noch nicht erlebt haben. Die Aussicht, für die „gute Sache“ reale und altbekannte Güter aufzugeben, um nach einer Periode des Opferbringens im besseren Zustand anzulanden, ist für den Menschen immer wenig einladend. Die Anti-Transformatoren legen zu Der Konsens eines großen Parteienfeldes, alles müsse sich radikal ändern, stresst also die Bevölkerung, und zwar individuell wie kollektiv. Die sich andeutenden Verschiebungen in der politischen Landschaft Deutschlands werden deshalb aller Voraussicht nach zu drei Vierteln zugunsten von zwei Parteien erfolgen, die diese Transformationserzählungen entweder offen ablehnen oder sie nicht aktiv zum Thema machen: AfD und BSW.Beide Parteien setzen in ihren Programmen und auf ihren Plakaten auf ein paar wenige konkrete Forderungen – und verzichten die auf die Einbettung ihrer Vorhaben in Transformations-Geschichten. Sie wissen: Die Deutschen sind transformationsmüde.Michael Andrick ist Philosoph und Kolumnist der Berliner Zeitung. Sein aktueller Spiegel-Bestseller „Im Moralgefängnis – Spaltung verstehen und überwinden“ behandelt die Effekte einer leichtfertigen Moralisierung politischer Debatten.Haben Sie Feedback? Schreiben Sie uns! briefe@berliner-zeitung.de Lesen Sie mehr zum Thema PolitikBerlin wähltSPDAfDUkraineRusslandMitteBundestagswahlWirtschaftBündnis Sahra Wagenknecht