Home„Made in Germany“ zieht nicht mehr: Worauf können wir Deutschen heute stolz sein? „Made in Germany“ zieht nicht mehr: Worauf können wir Deutschen heute stolz sein? Wenn das Sicherheitsgefühl schwindet und der Wohlstand sinkt, fällt es vielen schwer, nur noch auf unsere Werte stolz zu sein. Wofür stehen wir heute als Land? Ein Kommentar.Liudmila Kotlyarova09.02.2025 16:38 UhrEin beschädigtes Wahlplakat mit dem Foto von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) für die Bundestagswahl 2025 steht am Rheinufer in Mainz. Symbolbild.Boris Roessler/dpaDas Thema Migration prägt den Wahlkampf so stark wie noch nie. Es ist das Feld der politischen Demagogen und gesellschaftlichen Spalter. Linke und die Rechte driften immer weiter auseinander und radikalisieren sich. In der öffentlichen Debatte dominieren Begriffe wie rechtsextrem/rechtsradikal oder linksextrem/linksradikal. Als gäbe es die politische Mitte nicht mehr. Wo bleibt diese Mitte? Und noch wichtiger: Wofür steht sie?Als russische Migrantin in Deutschland, die im Dezember des letzten Jahres für besondere Integrationsleistungen eingebürgert wurde, bin ich politisch eher heimatlos. Ich sehe mich als unabhängige Beobachterin in der Mitte, der der Rechtsruck, aber zum Teil auch die Dämonisierung des politischen Gegners durch das linke Spektrum große Sorgen macht. Aktuelle Umfragen zeigen: Diese Moralisierung überzeugt AfD-Wähler nicht. Ja, sie nehmen es in Kauf, dass Teile der AfD vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft wurden. Ja, sie wissen es, dass es auch Nazis in der Partei gibt. Das alles schreckt sie jedoch nicht ab. Warum nur?Exklusiv: Zahl der Sexualverbrechen in Berlin auf neuem RekordhochBerlin30.01.2025Deutsche Wirtschaft steigt ab – Scholz plötzlich begeistert: „Was für eine irre Sache!“Berlin16.09.2024 Nicht nur das Bedürfnis nach Sicherheit: Deutschland macht gerade eine Identitätskrise durch So sehr mich diese Entwicklung auch beunruhigt, versuche ich, sachlich und gelassen ihre Gründe zu analysieren. Hinter jedem Thema, das die AfD instrumentalisiert, stecken oft reale Probleme und nicht nur irrationale, sondern auch begründete Ängste. Das Sicherheitsbedürfnis ist nach Solingen, Magdeburg und Aschaffenburg besonders stark ausgeprägt. Auch angesichts der Tatsache, dass es neben den gut integrierten, rechtstreuen Einwanderern leider auch Personen gibt, die sich auch nach acht Jahren in Deutschland nicht wirklich integrieren wollen. In vielen Kriminalstatistiken, wie etwa bei Sexualverbrechen in Berlin, fallen sie überproportional oft auf. Diese Probleme wurden in der Politik aus Angst vor der Nazikeule zu lange heruntergespielt, und sogar die gemäßigt kritischen Stimmen nicht selten stigmatisiert. Das spielte der AfD nur in die Hände.Die Sicherheit ist zwar das größte, aber nach meinen Beobachtungen nicht das einzige Thema, das viele Menschen gerade emotionalisiert und für Rechtspopulisten leicht ansprechbar macht. Als geborene Russin, die ihr Heimatland freiwillig für Deutschland verlassen hat und seitdem lernt, mit ihrer doppelten Identität umzugehen, muss ich feststellen, dass Deutschland gerade auch eine Identitätskrise durchmacht – oder zumindest ungefähr ein Viertel der Deutschen.Ich bin Deutsche geworden, doch mir blutet das Herz: Verflucht sei dieser schreckliche Krieg!Von Liudmila KotlyarovaBerlin13.12.2024Weil sie nicht mehr richtig wissen, womit sie sich identifizieren können. Wofür ihr Land steht, die einstige Wirtschaftslokomotive, die sich schon vor Jahren verlangsamt hat und jetzt noch droht, bei Technik und Technologien den Anschluss an die USA oder China zu verpassen. Das Land, das zunehmend erstarrt, unbeweglich und überbürokratisiert wirkt und international nicht mehr flächendeckend respektiert, sondern eher als „der kranke Mann Europas“ verhöhnt wird. Auch hier verbreiten sich die Ängste: vor der Deindustrialisierung, vor der Verarmung der Mitte, vor dem „langsamen Niedergang“, vor dem Wirtschaftsleute oft zwar zugespitzt, aber nicht ganz unbegründet warnen. Die Deutschen und der Stolz: Welche Zukunft wollen wir? Und hier höre ich öfter die schwierige, aber wichtige Frage: Worauf können wir Deutschen heute noch stolz sein? Früher war man auf die sicheren Städte stolz, auf Wohlstand und Lebensqualität, auf die starke Automobilindustrie, auf die deutsche Ingenieurskunst, auf „Made in Germany“ – und „unsere Werte“. Das alles sorgte für einen gewissen Ausgleich in der Frage, wer wir sind und was uns ausmacht.Wenn aber das Sicherheitsgefühl schwindet, die Lebenshaltungskosten nur noch steigen und die ärmere Hälfte der Bevölkerung in Deutschland weiterhin nicht nur effektiv kein Vermögen besitzt, sondern auch gefühlt ärmer wird, fällt es diesem Teil der Bevölkerung zunehmend schwer, nur noch auf „unsere Werte“ stolz zu sein, vor allem, wenn auch für diese leider Doppelstandards gelten. Wenn man nichts anderes sieht, worauf man stolz sein kann, wenn die Emotionen sich bei einigen nicht intellektuell wegdrücken lassen, verschiebt sich der Fokus ihrer Identität auf das Nationale, das „Deutsche“. So funktioniert es einfach, wie die Geschichte schon öfter gezeigt hat.Und schon wollen sie das Recht darauf haben, auf ihre deutsche Nationalität stolz zu sein, darauf, dass sie Deutsche sind. Nicht auf die liberale Demokratie, sondern auf die „große deutsche Kultur“, unbelastet von der großen Schuldfrage. Und dann bemerken diese Menschen selbst nicht, dass sie nicht mehr zwischen Schuld und Verantwortung unterscheiden können. Wollen sie nicht etwa auch das Maß der Verantwortung senken, indem sie „weniger Fokus auf die Schuld der Vergangenheit“ fordern?Langsamer Niedergang? Ökonomen stellen klar: „Die Deutschen werden relativ ärmer“Von Liudmila KotlyarovaBerlin18.01.2025An dieser Stelle verschwimmt die Grenze, und die Angst vor Hitler kommt wieder auf. Es bleibt eine schwierige Frage, welcher Patriotismus in Deutschland noch als gesund gelten kann und ob überhaupt. Wir müssen sie auch gar nicht so stellen. Aber die Frage, worauf wir Deutschen heute wirklich stolz sein können, werden wir nicht mehr so einfach loswerden können.Weil es auch die Frage ist, welche Zukunft wir wollen. Wenn die politische Mitte es nicht schafft, die notwendigen Reformen umzusetzen und neue, glaubwürdige, erfüllende Inhalte zu schaffen, könnte diese Kluft noch größer werden. Wenn wir auch beim Wirtschaftswachstum, Innovationen und Investitionen weiter abgehängt und geopolitisch immer unbedeutender werden, droht sich diese Identitätskrise zu verschärfen: ein fruchtbarer Boden für noch mehr Rechtsruck und Radikalisierung.Haben Sie Feedback? Schreiben Sie uns! briefe@berliner-zeitung.de