HomeRicardo Lange: Mein letzter Weg mit Erwin – oder was ich von den Toten lerne Ricardo Lange: Mein letzter Weg mit Erwin – oder was ich von den Toten lerne Der prominente Intensivpfleger wird täglich mit dem Tod konfrontiert. So nimmt er von Verstorbenen Abschied und so wird daraus die beste Zeit für Träume.Ricardo Lange08.02.2025 17:46 UhrRicardo LangeMarkus Wächter/Berliner ZeitungLaut und monoton rattern die Räder des Bettes über die alten Steinfliesen. Vor mir erstreckt sich ein langer, schmaler Kellergang, der sich scheinbar endlos zieht. In der tief hängenden Decke flackern die eingelassenen Leuchtstoffröhren und spenden nur spärliches Licht. Ich bin jemand, der selten friert, aber hier spüre selbst ich, wie mir die Kälte in die Knochen kriecht. Diesen Weg bin ich schon hunderte Male gegangen, und obwohl er überall anders aussieht, sind die Gedanken, die mir dabei durch den Kopf wandern, fast immer die gleichen. Ich bin auf dem Weg zur Leichenhalle.In dem Bett, das ich vor mir herschiebe liegt mein über 90-jähriger Patient, ich nenne ihn Erwin. Gleich werde ich Erwin mitsamt seinem Laken aus dem Bett auf die kalte Metallwanne ziehen und ihn mit dem Kopf voran in eines der freien Kühlfächer schieben. Auf dem Magneten, den ich an der Klappe befestige, wird „Belegt“ stehen, nicht „Beschlagnahmt“ wie beim Nachbarfach, denn Erwin ist eines natürlichen Todes gestorben.Ricardo Lange über Prozess zur Klinikrandale: „Ist das die volle Härte des Gesetzes, Frau Faeser?“Politik16.01.2025Ricardo Lange an Olaf Scholz: „Silvesterböller – was soll der Schwachsinn?“Gesundheit13.01.2025Ich werde die Klappe seines Faches schließen und dann die Tür zur Leichenhalle. Draußen im Gang ist es jetzt im Vergleich fast warm und der Geruch kaum noch wahrnehmbar. Wie es dort riecht? Das ist eine Frage, die ich noch niemandem anders beantworten konnte, als mit: „Es riecht nach dem Tod.“ Erwin wird hier zurückbleiben und ich wieder nach oben steigen zu den Lebenden.Wenn jemand bei uns auf der Station verstirbt, bleibt er für gewöhnlich um die zwei Stunden auf seinem Zimmer liegen. Zusammen mit dem Arzt stelle ich den genauen Todeszeitpunkt fest. Es ist 15.43 Uhr, als Erwins Herz aufhört zu schlagen. Während der Arzt den Totenschein ausfüllt und die Familie benachrichtigt, bleibe ich bei ihm im Zimmer und mache das, was ich immer mache: Ich entferne alle Zugänge, ziehe den Tubus mit dem Beatmungsschlauch heraus, schließe seine Augenlider und wasche Erwin ein letztes Mal. Ich unterhalte mich mit ihm, lege seine Arme sanft an seine Seite und sage ihm, dass er doch bestimmt gut aussehen möchte, wenn seine Frau kommt, während ich ihm ein sauberes Nachthemd überstreife. Das ist mein Umgang mit den Toten, so würdevoll, als würden sie noch leben. Meine Form des Abschiednehmens.Benjamin PritzkuleitZur PersonRicardo Lange, 43, wuchs in Berlin-Hellersdorf auf. Um sich gegen Übergriffe behaupten zu können, betrieb er Kampfsport und Bodybuilding. Er arbeitete als Fitnesstrainer und bei der Polizei, bevor er sich zum Intensivpfleger ausbilden ließ und in diesem Beruf seine Berufung fand.Im Ev. Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge arbeitet Lange seit diesem Jahr als Intensivpflegekraft. Zuvor war er für eine Zeitarbeitsfirma an wechselnden Kliniken tätig. 2022 veröffentlichte er ein Buch über den Pflegenotstand: „Intensiv: Wenn der Ausnahmezustand Alltag ist – Ein Notruf“ (dtv). Ricardo Lange ist Kolumnist der Berliner Zeitung.Ein Krankenhaus ist ein kalter, klinischer Ort, voll von fremden Menschen. Und während die einen um den Verlust eines geliebten Menschen trauern und für Sie die Zeit stillsteht, geht auf den Klinikfluren der Arbeitsbetrieb weiter. Der Alarm klingelt, es wird um Hilfe gerufen, die Ärzte eilen zur Visite und irgendwo hinter der nächsten Tür wird versucht, ein Leben zu retten.Ich stelle die Sichtschutzwände auf, stelle sie so, dass sie das Totenbett umgeben. Es ist der Versuch, einen privaten Raum der Stille zu schaffen. Eine elektronische Kerze flackert auf dem Nachtschrank, daneben liegen Taschentücher. Das Foto von Erwin steht daneben. Der Mann, der mich dort anschaut, sieht dem Toten in keinster Weise ähnlich. Der Erwin, der jetzt vor mir liegt, ist blass. Seine Haut fahl mit einem leicht geblichen Unterton. Der Mund ist schlaff und leicht geöffnet, die Mimik erloschen. Mein Gedanke, als ich zum allerersten Mal einen Verstorbenen gesehen habe, war, dass dieser Körper nur noch eine Hülle ist, dass die Seele ihr Gefäß bereits verlassen hat. Ein Gedanke, den ich bis heute teile. Ricardo öffnet das Fenster und lässt Erwin gehen Seine Frau ist da, ich verlasse das Zimmer und komme erst zurück, nachdem sich der letzte Angehörige verabschiedet hat. Dann öffne ich das Fenster und lasse Erwin gehen.Ich knüpfe den Zehenzettel an seinen großen Zeh. Lese seinen Namen, das Datum seiner Geburt und das heutige – seinen Todestag. Dann ist der Moment gekommen, an dem auch ich Erwin ein letztes Mal sehe. Ich ziehe das weiße Laken über sein Gesicht und Erwin und wir machen uns auf den Weg nach unten.„Was war Erwin für ein Mensch? Welche Wünsche und Sehnsüchte haben sein Leben geprägt und welche sind bis heute unerfüllt geblieben?“ Diese Fragen beschäftigen mich auf dem Weg zur Leichenhalle und lassen mich über mein eigenes Leben nachdenken.Jeder Verstorbene erinnert mich aufs Neue daran, mein eigenes Leben unter die Lupe zu nehmen, hilft mir, meinen Fokus wieder ins richtige Licht zu rücken und auf die wichtigen Dinge des Lebens zu lenken. Sie lehren mich etwas, was nur die Toten können: Es gibt keinen besseren Zeitpunkt seine Träume zu jagen als jetzt.