HomeEine Bundestagswahl, die keine ist: Warum Deutschland echte Alternativen braucht Eine Bundestagswahl, die keine ist: Warum Deutschland echte Alternativen braucht Der Debattenraum ist massiv eingeschränkt und die inhaltliche Vielfalt erinnert unseren Autor an das Spektrum der Blockparteien in der DDR. Ein Gastbeitrag.Fabian Scheidler03.12.2024 03:29 UhrBedeckt intellektuelles Notstandsgebiet: die ReichstagskuppelMaurizio Gambarini/dpaDie Sphäre der deutschen Politik zu betreten, bedeutet, sich in ein intellektuelles Notstandsgebiet zu begeben. Da soll Frieden geschaffen werden, indem man uns immer näher an einen Dritten Weltkrieg heranführt. Da soll die Wirtschaft angekurbelt werden, indem man bei den sozial Schwächsten kürzt, die ja bekanntlich ihr ganzes Einkommen in den Wirtschaftskreislauf zurückführen, während die Reichen ihr Geld tendenziell in Steueroasen parken. Da soll der ökologische Zusammenbruch aufgehalten werden, indem man drei Tonnen schwere Elektro-SUVs fördert, die einen ökologischen Fußabdruck wie kleine Panzer haben. Und wie man den allseits beschworenen sozialen Zusammenhalt, die Jugend und die Bildung fördern will, indem man, wie es jetzt die große Koalition in Berlin tut, den Kultureinrichtungen, Jugendzentren, Schulen und öffentlichen Bibliotheken einen Rundum-Kahlschlag verordnet, entzieht sich jedem Verständnis.Ukrainekrieg: Neue EU-Resolution bringt Europa an den Rand des dritten WeltkriegsInternationales•gesternBarrie Kosky zum Baustopp: „Die CDU bestraft die Komische Oper auch für ihre DDR-Geschichte“Berlin30.11.2024Von George Orwell bis Hannah Arendt haben kritische Geister immer wieder beschrieben, wie die Zerstörung der Logik den Weg für autoritäre Herrschaft bahnt. Denn der Tod der Logik ist der Tod des Denkens überhaupt und damit jeder Kritikfähigkeit – und der Möglichkeit einer Kurskorrektur.Und nun sollen wir im Februar zwischen verschiedenen Fraktionen von, nun ja, sagen wir es vorsichtig, intellektuell anspruchslosen Zeitgenossen wählen. Wenn man den Umfragen glaubt, soll ein CDU-Kanzler die nächste Regierung führen, der den schon schwer beschädigten deutschen Sozialstaat zugunsten seines Blackrock-Klientels und des militärisch-industriellen Komplexes noch weiter aushöhlen will und dessen Parteikollegen am liebsten Ministerien in Moskau bombardieren würden.Die deutsche Politik gleicht einem Auto ohne Lenkrad und Bremse, bei dem es nur ein Gaspedal gibt: Wir können lediglich wählen, wie schnell wir gegen die Wand fahren. Ein wirklicher – und dringend notwendiger – Richtungswechsel steht gar nicht zur Wahl.Das ist selbstredend ein Desaster für die Demokratie. Viele Menschen haben in den letzten Jahren die Erfahrung gemacht, dass die etablierten Parteien bei existentiellen Themen wie der Corona-Politik und dem Ukrainekrieg kaum Unterschiede erkennen ließen. Sie standen gleichermaßen für Alternativlosigkeit – und damit gegen die Demokratie. Diese ganz große Koalition hat die AfD überhaupt erst so groß werden lassen. Die Bedrohung der Demokratie kommt nicht nur von rechts, sondern auch aus der vielbeschworenen Mitte der Gesellschaft. Wer Demokratie verteidigen will, muss nicht allein gegen die AfD, sondern auch gegen das Kartell der Alternativlosigkeit auf die Barrikaden gehen. Weitere Appelle, die dazu aufrufen, sich hinter den Statthaltern eines unhaltbaren Status quo zu versammeln, um die AfD aufzuhalten, sind nicht nur nutzlos wie das Pfeifen im Walde, sie machen die Lage tatsächlich schlimmer.Hendrick Streeck über Corona-Aufarbeitung: „Einen Bürgerrat halte ich für vollkommen falsch“vor 30 Min.„Den Leuten wurde etwas vorgemacht“: Hans-Werner Sinn rechnet mit Scholz, Merkel und EU abAmpel-Koalition•vor 6 Std. Parteien sind inhaltlich kaum unterscheidbar Was es braucht, sind wirkliche Alternativen. Die vorgebliche „Alternative für Deutschland“ bietet dabei vor allem einen Etikettenschwindel, ist sie doch den von ihr verspotteten „Altparteien“ in vieler Hinsicht weitaus ähnlicher, als beide Seiten zugeben wollen. Die wirtschaftspolitischen Vorschläge der AfD etwa überbieten noch die ruinösen Rezepte aus der neoliberalen Mottenkiste eines Friedrich Merz und Christian Lindner; die Missachtung des Völkerrechts in Bezug auf Gaza trägt die angebliche Friedenspartei ebenfalls mit – wie auch die Grünen und die SPD; gleiches gilt für die Aushöhlung des Asylrechts; und für weitere Aufrüstung sind sowieso alle genannten. Eine inhaltliche Vielfalt, die an das Spektrum der Blockparteien in der DDR erinnert.Will man aus der verhängnisvollen Schockstarre, die dieses Land befallen hat, ausbrechen, muss das Fenster der Debatte geöffnet werden. In den 1990er-Jahren beschrieb der US-Politologe Joseph Overton, dass gesellschaftliche Diskurse sich in der Regel im Rahmen eines bestimmten Fensters bewegen, das definiert, was als sinnvoll und akzeptabel angesehen wird, und was als radikal und undenkbar gilt. Dieses sogenannte Overton-Fenster kann im Laufe der Zeit größer und kleiner werden – und es kann vor allem seine Position wechseln. Was zu einem bestimmten Zeitpunkt undenkbar war, ist in einem anderen Moment offizielle Staatspolitik. Und umgekehrt: einst allgemein akzeptierte Vorstellungen werden später als extremistische Außenseiterposition dargestellt.Parteieintritte auf Rekordniveau: „Ich dachte, so ein Mann wie Friedrich Merz muss bekämpft werden“Berlin01.12.2024Ricarda Lang hat recht: „Kampf gegen rechts“ reicht nicht – die Menschen wollen besser lebenDebatte20.11.2024Wendet man Overtons Erkenntnisse auf die Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg an, zeigt sich eine bemerkenswerte Verschiebung des Fensters. Ein Beispiel: In den 1950er- bis 70er-Jahren – dem „goldenen Zeitalter des Kapitalismus“ – galten in Ländern wie den USA und Großbritannien Spitzensteuersätze von 80 bis 90 Prozent, in Deutschland zeitweise immerhin von über 70 Prozent. Das war damals normal. Es erlaubte, einen funktionierenden Sozialstaat aufzubauen, eine Bahn, die weltweit für ihre Zuverlässigkeit berühmt war, und Schulen, in denen Lehrern und Schülern, die kurz vor dem Burn-out stehen, nicht der bröckelnde Putz auf den Kopf fällt. So wurde sozialer Zusammenhalt gestaltbar, die Kluft zwischen Arm und Reich verringerte sich auf den tiefsten Stand in Jahrhunderten, und dies wiederum garantierte eine gewisse politische Stabilität.Heute dagegen gilt jemand, der solche Spitzensteuersätze fordert, als verrückt. Nicht einmal eine moderate Anhebung der heute geltenden 42 bzw. 45 Prozent („Reichensteuer“) auf die Zeiten eines Helmut Kohl (53 Prozent) wird debattiert, von einer Vermögenssteuer ganz zu schweigen. Und das angesichts einer budgetären Notlage, in die uns die Ampelregierung und ihre Vorgänger hineinmanövriert haben.Stattdessen hat sich der gesamte Haushaltsstreit ausschließlich auf die Frage der Schulden konzentriert. Das In-die-Pflicht-Nehmen von Spitzenverdienern und Superreichen ist aus dem Debattenfenster einfach verschwunden. Dabei haben Millionäre und Milliardäre von den verheerenden Krisen der letzten Jahre enorm profitiert. Die Internetmilliardäre etwa konnten in der Corona-Zeit ihre Vermögen verdoppeln. In Deutschland herrscht heute eine Ungleichheit wie seit hundert Jahren nicht mehr. Millionäre und Milliardäre haben von den Krisen profitiert Will man etwas gegen den daraus folgenden politischen Zerfall tun, sollte man, statt immer nur auf Trump und die AfD zu schimpfen, die Krisenprofiteure und Superreichen in die Pflicht nehmen, um einen sozialen und ökologischen Umbau auf den Weg zu bringen, der auf die großen Probleme unserer Zeit auch große Antworten gibt. Der von den Grünen in der Ampelkoalition eingeschlagene Weg, geflickschusterten Klimaschutz auf dem Rücken der Geringverdienenden und der zunehmend prekären Mittelschichten zu betreiben, ist vollkommen gescheitert. Ökologische Politik kann im 21. Jahrhundert nur gelingen, wenn sie auch soziale Politik ist und für diese Schichten sehr deutliche Verbesserungen mit sich bringt statt weitere Verschlechterungen.Piper VerlagFabian Scheidler ist freischaffender Autor. Sein Buch „Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation“ wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. 2021 erschien im Piper Verlag „Der Stoff, aus dem wir sind. Warum wir Natur und Gesellschaft neu denken müssen“. Fabian Scheidler erhielt 2009 den Otto-Brenner-Medienpreis für kritischen Journalismus. www.fabian-scheidler.deDas bedeutet: gute Arbeit mit guten Löhnen in sinnvollen Tätigkeiten; Begrenzung der Mieten; massiver Ausbau der öffentlichen Daseinsvorsorge statt weiterer Abbau; Schaffung von schnellen, zuverlässigen und günstigen öffentlichen Verkehrssystemen statt weitere Mangelverwaltung und Zerrüttung; massive Investitionen in Schulen, und zwar nicht für mehr Computer im Klassenraum, sondern für mehr Lehrer und angemessene Räume; eine gesundheitliche Nahversorgung auch im ländlichen Raum statt Klinikschließungen; eine Solardachpflicht, die komplett vom Staat vorfinanziert wird, und vieles mehr.All das kann man ohne Probleme bezahlen, wenn man sich das Geld dort holt, wo es im Überfluss vorhanden ist und meistens nur für Spekulation statt für sinnvolle Investitionen genutzt wird. Der Ökonom Robert Pollin und Noam Chomsky haben vor einigen Jahren errechnet, dass man für ein solches Programm im globalen Maßstab etwa fünf Prozent des Weltsozialproduktes aufwenden müsste – ehrgeizig, aber machbar.Das ist auch gerechter, als einfach zusätzliche Schulden zu machen, denn wer Schulden macht, leiht sich das Geld nur von den Vermögenden, um es ihnen später verzinst zurückzuzahlen – statt es per Steuern gerechter zu verteilen. Schulden für Zukunftsinvestitionen sind zwar immer noch besser als die von Anfang an falsche Schuldenbremse, aber eben nur die zweitbeste Lösung.Auch beim Thema Frieden wird plötzlich sehr viel möglich, wenn man das Overton-Fenster ein Stück öffnet. Mitten im Kalten Krieg, nachdem die Menschheit in der Kubakrise nur knapp ihrem Untergang entronnen war, stießen die Vordenker der neuen Ostpolitik, Willy Brandt und Egon Bahr, einen Prozess an, der Schritt für Schritt zu einer Entspannung zwischen den Blöcken, zur Einrichtung einer Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und zu zahlreichen Abrüstungsverträgen führte. Die Sowjetunion war damals ebenso wenig wie Russland heute ein Hort der Menschenrechte, die UdSSR war immerhin 1968 in Prag einmarschiert. Und doch siegte das verantwortungsethische Bewusstsein, dass man angesichts der existenziellen Bedrohung durch einen Atomkrieg kooperieren musste, statt auf lebensbedrohliche Konfrontation zu setzen. Vielleicht verdanken wir dieser Einsicht die Tatsache, dass wir heute überhaupt noch hier sind und uns Gedanken über solche Fragen machen können. Ohne Entspannungspolitik ist auch die friedliche Beendigung der Blockkonfrontation unter Michail Gorbatschow kaum vorstellbar, ebenso wie die daraus folgende – leider nur vorübergehende – „Friedensdividende“, die das Ende des Wettrüstens mit sich brachte.Deutschland muss für Frieden sorgen: Gemeinsame Sicherheit ist das Gebot der StundePolitik04.10.2024Friedenspolitik: Weder Geschichtsrevisionismus noch Brandt-Kult helfen weiterBerlin22.05.2024Wer aber heute an die damals sehr erfolgreiche Brandt’sche Außenpolitik erinnert, gilt als „Putinversteher“, als Anwalt von „Appeasement“. Auch in diesem Fall zeigt das Overton-Fenster heute eine ganz andere Auswahl von als vertretbar geltenden Optionen als vor 50 Jahren. Sogar die historische Lüge, dass die Entspannungspolitik den Weg in den Ukrainekrieg geebnet habe, wird heute unwidersprochen landauf, landab wiederholt. Dabei war es tatsächlich die Abkehr von der Entspannungspolitik, unter anderem durch die Aufkündigung zentraler Abrüstungsverträge durch George W. Bush (ABM-Vertrag, 2001) und Donald Trump (INF-Vertrag, 2018) sowie die Ausweitung der Nato an die Grenzen Russlands, die zur Erhöhung der Spannungen maßgeblich beitrug. Das rechtfertigt in keiner Weise die russische Invasion. Aber es gehört zur Vorgeschichte dazu und muss auch bei der Suche nach Friedenslösungen berücksichtigt werden.Fassen wir zusammen: Die scheinbare Alternativlosigkeit der deutschen Politik beruht auf einer massiven Verengung des Debattenraumes. Erweitern wir den Horizont, so werden eine Friedenspolitik, die diesen Namen verdient, ebenso möglich wie eine Renaissance der öffentlichen Daseinsvorsorge, eine gerechtere Verteilung von Einkommen, Vermögen und Eigentum sowie ein ernsthafter ökologischer Umbau, der mehr Lebensqualität für die Mehrheit der Menschen bringt. Die meisten der derzeit aufgestellten politischen Parteien versuchen jedoch, eine solche Ausweitung der Debatte zu verhindern, damit die Bürger die Beschränktheit ihrer Angebote nicht erkennen. Tun wir ihnen diesen Gefallen nicht. Öffnen wir das Fenster.