S Etgar Keret über Deutschland: „Irgendwann wird euch der Wahnsinn auch erreichen“ – AktuelleThemen.de

HomeKulturEtgar Keret über Deutschland: „Irgendwann wird euch der Wahnsinn auch erreichen“ Etgar Keret über Deutschland: „Irgendwann wird euch der Wahnsinn auch erreichen“ Der israelische Schriftsteller sagt im Interview, wie man in Kriegszeiten über schlechten Sex schreibt. Und was passierte, als er im Berliner Soho-House sein Zimmer tauschen wollte..Anja Reich20.04.2025 20:50 UhrDer israelische Schriftsteller Etgar Keret.Paulus Ponizak/Berliner ZeitungUm den Pool des Berliner Soho-Hauses sitzen junge, hippe Menschen beim späten Frühstück. Etgar Keret sucht sich einen ruhigen Platz an der Seite. Am Abend zuvor ist der Schriftsteller aus Tel Aviv in Berlin gelandet, um sein neues Buch „Starke Meinung zu brennenden Themen“ vorzustellen.Sie haben vor drei Jahren selbst einmal in Berlin gelebt, Herr Keret. Wie ist es, wieder hier zu sein?Als ob ich in einer anderen Welt gelandet bin. Das Leben hier ist so normal.Woran merken Sie das?An Kleinigkeiten. Gestern Abend zum Beispiel wollte ich mein Zimmer hier im Soho-House tauschen. Es liegt im ersten Stock und ist ein wenig laut. Die Frau an der Rezeption beriet sich mit ihrer Kollegin, sah in ihrem Computer nach, sagte schließlich, wenn ich gar nicht schlafen könne, solle ich mich nochmal melden. Ich hatte das Gefühl, bei meinem Zimmertausch  handele es sich um eine hochemotionale Angelegenheit.In Isreal würde man gucken, ob ein anderes Zimmer frei ist oder nicht. Fertig.Paulus Ponizak/Berliner ZeitungWie wäre es in Israel?Da würde man gucken, ob ein anderes Zimmer frei ist oder nicht. Fertig. Ich bin dann in meinem Zimmer geblieben. Ich fühle mich schon schuldig genug, weil ich in Israel lebe, ich brauche nicht noch das Schuldgefühl, eine Berliner Rezeptionistin in eine schwierige Lage gebracht zu haben.Und wie haben Sie geschlafen?Ganz gut. Solche Dinge fallen mir aber nicht nur in Berlin auf. Meine erste Reise nach dem 7. Oktober führte mich nach Taormina in Sizilien. Ich wurde Zeuge, wie einem Jungen sein Eis herunterfiel. Er schrie wie am Spieß, die Eltern beruhigten ihn, eine Szene, so hochdramatisch, als würde ein Haus abbrennen. Früher war es bei uns genauso. Heute kommt es mir so überflüssig vor. Die Hürde, für etwas zu kämpfen, mich über etwas aufzuregen, ist viel höher geworden. Ich verreise aber auch nicht mehr so oft. Etgar Keret: „Es gibt Menschen in Berlin, die mich anspucken würden.“ Warum nicht?Es gibt in Israel so viele Probleme, dass du lieber zu Hause bleibst. Auch, weil du Angst haben musst, nicht wieder zurückzukommen, wenn die Hisbollah den Flughafen bombardiert. Es gibt in Israel diese verzerrte Sichtweise, dass es außerhalb von Israel für Juden gefährlich ist. Das klingt absurd, wenn wir hier beide gemütlich beim Kaffee zusammensitzen. Ich bin sicher, hier gibt es Menschen, die mich anspucken und sagen würden, sie wünschten, meine Eltern wären im Holocaust umgekommen. Was nicht heißt: Das ist Berlin.Auch Deutschland hat sich verändert. Auch hier herrscht Angst vor Krieg. Spüren Sie diese Veränderungen?Deutschland ist für mich eines der am wenigsten verrücktesten Länder der Welt. Aber irgendwann wird euch der Wahnsinn auch erreichen. Wenn man mich in einem schwachen Moment erwischt und mich fragt, wie ich die Zukunft sehe, sage ich, dass auch die westliche Welt bald im Krieg sein wird, dass die Russen erst Polen und dann Deutschland überfallen werden. Und dass der Terror so allgegenwärtig sein wird wie bei uns, jedes Land in Europa um seine innere Sicherheit kämpfen muss. Die Bedrohung kommt von innen und von außen. Als ob man mitten im Sturm mit seinem größten Feind im selben Boot sitzt. Mein Sohn ist seit ein paar Tagen bei der israelischen Armee. Seit ich hier angekommen bin, schicke ich ihm Fotos und schreibe dazu: Erinnerst du dich daran, wie wir hier waren oder dort?Deutschland ist für mich eines der am wenigsten verrücktesten Länder der Welt.Paulus Ponizak/Berliner ZeitungWo waren Sie?Wir haben in der Kollwitzstraße gewohnt und gingen jeden Morgen durch Berlin-Mitte zu seiner Schule in der Linienstraße. Er war 15, suchte die Herausforderung, wollte eine neue Sprache lernen. In Israel hat er sich immer wie ein zweitklassiger Europäer gefühlt. Hier hat er gemerkt, dass es Dinge in Israel gibt, die ihm besser gefallen.Welche Dinge sind das?Israelis sind innovativer, mutiger, origineller. Ich denke oft an meinen Sohn, seit ich hier gelandet bin. Weil er bei der Armee ist, alles anders ist.Als ich Sie 2018 in Tel Aviv interviewt habe, sagten Sie, Ihr Sohn wolle auf keinen Fall zur Armee. Jetzt ist er doch gegangen?Damals fand er die israelische Politik zu aggressiv, es gab für ihn keinen Grund, in der Armee zu dienen, keine Dringlichkeit. Am 7. Oktober hat sich das schlagartig verändert. Mit dem Angriff der Hamas war die Bedrohung auf einmal ganz nah. Du hattest das Gefühl, als Scharfschütze hinterm Fenster stehen und deine Familie beschützen zu müssen. Seitdem wollte mein Sohn Kampfpilot werden. Aber er ist ein Einzelkind, wir konnten Einspruch dagegen erheben, dass er in eine Kampfeinheit gesteckt wird. In Israel gibt es so ein halbvergessenes Gesetz dafür. Etgar Keret: „Alles ist so groß und klein, so chaotisch und normal.“ Was hat Ihr Sohn dazu gesagt?Er hat es akzeptiert. Er ist sehr reif, sehr erwachsen, fast mehr als wir, seine Eltern. Und ich hoffe wirklich, er muss auf niemanden schießen, und niemand auf ihn. Meine Angst, dass er jemanden umbringt, ist fast so groß wie die, dass er umgebracht wird.In welcher Einheit ist er jetzt?In einer, die mehr mit Technik und Technologien zu tun hat. Aber sein Cousin, der genauso alt ist wie er, kämpft im Libanon. So ist die Realität bei uns: der Cousin im Libanon, der Freund der Eltern, ein Holocaust-Überlebender, nach Gaza verschleppt und erschossen. Und über die Nachbarin heißt es: Sprich sie besser nicht an, denn sie war am 7. Oktober als Soldatin im Einsatz und hat ihre beste Freundin verloren. Alles ist so dicht dran. Es gibt so viel Trauer. Und alles ist so groß und so klein, so chaotisch und gemein und normal. Ein 19-Jähriger, der sein Bein verloren hat, sagt, ich habe schon keine Freundin bekommen, als ich noch beide Beine hatte. Wer will mich jetzt, ohne Beine?Etgar Keret: „Diesen Angriff hat der Iran orchestriert, und dort gibt es keine Besatzung“Berlin28.10.2023″Israel ist ein bisschen wie Iran und San Francisco“Politik15.06.2018In fast jeder Geschichte Ihres neuen Buches geht es um Sterben und Tod. Hat das mit dem 7. Oktober zu tun?Abgabetermin für mein Buch war am 8. Oktober 2023. Wie immer war ich nicht pünktlich fertig. Und habe dann vergessen, dass ich überhaupt ein Buch geschrieben hatte. Als es mir wieder einfiel, fragte ich meinen Verleger, was ich damit machen soll. Er antwortete, die Hälfte des Verlages ist in Gaza.Die israelische Armee besteht zur Hälfte aus Reservisten.Paulus Ponizak/Berliner ZeitungSogar die Lektoren wurden einberufen?Die israelische Armee besteht zur Hälfte aus Reservisten. Die Altersgrenze war 40, aber jetzt kämpfen auch 62-Jährige im Krieg. Verrückt.Und Sie? Wurden Sie auch einberufen?Ich bin 57, habe Asthma, war nie in einer Kampfeinheit und vor 20 Jahren zum letzten Mal im Reservedienst, wo ich den Boden gewischt und den Müll rausgebracht habe. Aber fast alle um mich herum sind weg. Ich musste mir einen neuen Physiotherapeuten suchen. Tut mir wirklich leid für ihn. Seine Frau will ihn verlassen. Sie hat kurz vor seiner Einberufung ein Kind bekommen und versteht nicht, warum er sich nicht weigert, zur Armee zu gehen. Er wiederum hat Angst, ins Gefängnis zu müssen, wenn er das tut. Ich kenne Paare, wo der eine dem anderen ein Ultimatum gestellt hat: Entweder wir verlassen zusammen das Land, oder ich verlasse dich. Nach sechs, acht Monaten kommen die Soldaten zurück nach Hause, und sie kommen anders zurück.Weil sie traumatisiert sind.Ja. Posttraumatische Störungen sind am schwersten zu behandeln, wenn du der Aggressor oder der Täter warst. Opfer leiden unter ihren Erinnerungen. Täter denken daran, dass sie eine Möglichkeit nicht genutzt haben, dass sie den Tod eines anderen hätten verhindern können. Man ist erst 19, und man hinterfragt seine Befehle nicht. Ich kenne einen Soldaten, der überprüfen sollte, ob sich Menschen in einem Gebäude befinden. Er hat niemanden gesehen. Erst nachdem das Gebäude hochgegangen ist, haben sie gemerkt, dass sich noch eine Frau darin befand. Das ist 14 Jahre her. Und dieser Mann denkt immer noch daran, dass die Frau noch leben könnte, wenn er das Gebäude nicht freigegeben hätte.Was ist, wenn man sich weigert, es zu tun?Diese Menschen haben es schwer in Israel. Alle, die die Regierung und den Krieg kritisieren, haben es schwer. Ich gehe jede Woche auf die Demonstrationen gegen die Regierung und erlebe dort, wie sogar Opfer vom 7. Oktober oder deren Angehörige beschimpft werden: „Du hast einen Sohn in Gaza verloren? Ich hoffe, dass du deine ganze Familie verlierst.“ Die Polizei ist total gewalttätig. Sie schießen mit Wasserwerfern auf Demonstranten. Meine Frau hat erlebt, wie ein Polizist eine Geisel aus Gaza erkannt hat und zu seinem Kollegen sagte: „Nimm dir die Schlampe hier vor.“ Etgar Keret: „Die besten Geiseln sind die, die ruhig sterben.“ Weil sie gegen Netanjahu protestiert hat?Weil sie sich nicht so benimmt, wie es von ihr erwartet wird. Nach Gaza entführt zu werden, wird als eine Art ziviler Dienst angesehen, den du für dein Land leistest. Dementsprechend sollen sich befreite Geiseln benehmen. So nach dem Motto: Unser Regierungschef hat alles für deine Freilassung getan, und jetzt sagst du nicht mal danke. Die besten Geiseln sind die, die ruhig sind, ruhig sterben, oder wenn sie befreit wurden, sich nicht beschweren und nicht auf die Straße gehen.Paulus Ponizak/Berliner ZeitungEtgar Keretgeboren 1967 in Ramat Gan, ist einer der bedeutendsten zeitgenössischen Schriftsteller Israels. Er gilt als Meister der Kurzgeschichte, seine Short-Story-Bände sind Bestseller und werden in 40 Sprachen übersetzt. Sein neuester Band „Starke Meinung zu brennenden Themen“ ist vor wenigen Tagen im Aufbau-Verlag erschienen. Er lebt mit seiner Familie in Tel Aviv.Es gibt jetzt auch Demonstrationen in Gaza gegen die Hamas. Können Sie sich vorstellen, dass beide Regierungen gestürzt werden und es so vielleicht zu Frieden kommt?Das ist schwer vorauszusagen. Alles, was ich sagen kann, ist, dass wir versuchen, Israelis auf das Leid der Palästinenser aufmerksam zu machen. Meine Schwägerin hat eine Initiative gegründet, bei der wir israelischen Demonstranten Fotos von Kindern, die in Gaza gestorben sind, in die Hand drücken.Alle, die die Regierung und den Krieg kritisieren, haben es schwer.Paulus Ponizak/Berliner ZeitungSie machen auch mit?Ja, schon deshalb, weil ich Angst habe, dass meiner Frau von Gegnern ein Messer in den Bauch gestochen wird. Weil ich sie beschützen will. Mein Bruder ist auch dabei. Und es ist etwas passiert, womit ich nicht gerechnet hätte. Menschen haben das Foto genommen, sich auf die Straße gesetzt und geweint.Wie hat Sie dieser Krieg noch verändert?Ich habe in meinem Leben oft mit Überlebenden des Zweiten Weltkrieges, des Holocaust gesprochen. Meine Mutter hat mir beispielsweise erzählt, wenn jemand ruft: Komm her, komm her, dann lauf in die entgegengesetzte Richtung. Denn dort, wo sich im Krieg Menschen an einem Ort versammeln, werden auch Menschen umgebracht. Ich habe das nie verstanden, aber nach dem Anschlag auf das Festival am Gazastreifen ergibt es plötzlich Sinn.Als wir uns das letzte Mal trafen, haben Sie von Ihrer ultraorthodoxen Schwester, die in Jerusalem lebt und elf Kinder hat, erzählt. Wie geht es ihr heute?Es gibt eine Geschichte in meinem Buch über einen Ultraorthodoxen, der betet, um das Leiden von Menschen zu beenden. Diese Geschichte habe ich geschrieben, weil ich zu Beginn des Krieges so eine Distanz zwischen meiner Schwester und mir gespürt habe.Woher kam die Distanz?Für meine Schwester, die in Mea She’arim wohnt, war der Krieg so weit weg wie der in der Ukraine. Sie kannte niemanden, der gestorben war, niemanden, der in der Armee kämpfen musste. Sie sagte, sie würde jetzt mehr beten, aber es klang alles ziemlich unspezifisch.Sind Sie sich wieder näher gekommen?Ja. Immer, wenn ich etwas nicht verstehe, versuche ich, in den Kopf des anderen zu gehen. Das habe ich getan, mich gefragt, was würde mein Neffe sagen, was meine Schwester? So ist mir klar geworden, dass Beten und Schreiben im Prinzip das Gleiche sind. Wenn man betet und Gott um etwas bittet, muss man sich vorstellen, dass er existiert. Wenn man schreibt, muss man sich jemanden vorstellen, der die Geschichte liest. Ohne diese Vorstellung kann ich nicht schreiben.Für meine Schwester, die in Mea She’arim wohnt, war der Krieg so weit weg wie der in der Ukraine.Paulus Ponizak/Berliner ZeitungSie haben immer einen Leser im Kopf, für den Sie schreiben?Ja, ich denke zum Beispiel an eine Frau in Berlin, die traurig ist und weint, und wenn sie meine Geschichte liest, geht es ihr besser. Schreiben ist wie beten, wirklich. In der Geschichte über den Ultraorthodoxen bin ich dann wieder zu mir zurückgekommen, zu meiner eigenen Perspektive, wusste am Ende genau, was ich tue, warum ich anders als meine Schwester bin.Könnten Sie sich in die Perspektive eines Palästinensers in Gaza hineinversetzen?Es ist nicht so, dass ich mich weigern würde, es zu tun. Kreativität kennt bei mir keine Grenzen. Aber ich frage mich, muss das, was ich erzählen will, wirklich am 7. Oktober spielen oder in Gaza? Ich versuche, Dinge, die dort passiert sind, in eine andere Realität zu verlegen. Emotionen sind für mich wichtiger als Orte. Etgar Keret: „Schlechten Sex ohne das Massaker vom 7. Oktober erzählen.“ Können Sie ein Beispiel nennen?Es gibt die Geschichte eines One-Night-Stands. Schlechter Sex, nach dem die Frau so schnell wie möglich zurück nach Hause und den Mann nie wiedersehen will. Aber es ist der Morgen des 7. Oktober. Gerade, als sie gehen will, wird er zu seiner Einheit gerufen, sie fährt ihn dorthin, bleibt mit ihm zusammen, statt sich von ihm zu trennen. Die äußeren Gegebenheiten verändern alles, man weiß nicht mehr, was wichtig ist, was man wirklich will. Als ich die Geschichte gehört habe, war mein erster Gedanke: Wie kann ich das ohne das Massaker erzählen?Und?Der Mann bekommt eine Nachricht, dass sein Vater gestorben ist. Er weint, sie fährt ihn zur Beerdigung. Diese kleinen Nuancen zwischen den beiden lassen sich im Alltag viel besser beschreiben als vor dem Hintergrund einer großen Katastrophe.Deshalb wird der 7. Oktober in Ihrem Buch nicht ein einziges Mal erwähnt.Ja, ich habe auch keine Nachrufe auf Opfer des Massakers geschrieben, obwohl alle Schriftsteller in Israel aufgefordert wurden, das zu tun.Sie haben sich geweigert? Warum?Ich konnte es nicht. Wenn ich etwas schreibe, muss ich es wollen und fühlen und die Menschen kennen. Ich habe in letzter Zeit nur zwei Nachrufe geschrieben. Auf meinen Schwiegervater und auf Meir Shalev, einen israelischen Schriftsteller. Das ist auch das, was ich meinen Studenten beibringe: Ihre eigenen Geschichten zu erzählen, sich nicht von den sozialen Medien beeinflussen zu lassen, so viel wie möglich selbst zu erleben. Ich bin in der Beziehung ziemlich extrem. Ich halte auf Demonstrationen keine Schilder hoch, die ich nicht selbst beschriftet habe. Ich trage keine Shirts mit Losungen, wenn ich sie mir nicht selbst ausgedacht habe. Ich weigere mich sogar, Lieder mitzusingen. Ich mache das nicht einmal bewusst, ich kann es einfach nicht. Weil es nicht meine Worte sind. Das habe ich von meiner Mutter gelernt.Ich habe keine Nachrufe auf Opfer des Massakers geschrieben, obwohl alle Schriftsteller in Israel aufgefordert wurden, das zu tun.Wie hat Sie Ihnen das beigebracht? Als ich acht war, ist sie mit mir zum Kinderarzt gegangen. Im Warteraum standen nur zwei Stühle, auf der eine andere Frau mit ihrem Kind saß. Und die Mutter sagte zu ihrem Kind, steh auf, die Frau ist eine Holocaust-Überlebende.Woher wusste sie das?Weil in Ramat Gan, wo sich die Praxis befand, vor allem irakische Juden lebten und meine Mutter sich als Europäerin von ihnen unterschied.Was geschah dann?Meine Mutter sagte zu dem Jungen: Wie nett von dir. Aber warum soll ich mich setzen? – Weil du eine Überlebende bist, weil du so viel Schlimmes erlebt hast, sagte der Junge. – Meine Mutter erklärte ihm, was es heißt zu überleben. Wie es wäre, wenn man hier, in dieser Praxis, tagelang stehen müsste, ohne Wasser, ohne Essen. Sie riet ihm, seinen Stuhl lieber zu behalten, denn er könnte ihn brauchen.Sie hat ihm damit gesagt, dass er nichts von ihr und ihrem Überleben weiß? Und lieber auf sich selbst aufpassen soll?Dass jeder seine eigene Geschichte hat. Und die Geschichte, die die Mutter und der Junge auf sie projiziert haben, war nicht ihre.Wie lange werden Sie in Berlin bleiben?Drei Tage. Aber bevor wir hier Schluss machen, möchte ich Ihnen noch etwas erzählen, weil ich das Gefühl habe, ich rede und rede und sage nicht das, was wichtig ist. Etgar Keret: Ich kenne Sie, Sie sind dieses linke Arschloch. Erzählen Sie.Ich fahre zu Hause oft mit dem Taxi, weil ich ein schlechter Autofahrer bin. Und neulich hat ein Fahrer zu mir gesagt: Ich kenne Sie, Sie sind dieses linke Arschloch. Wir haben eine lange Fahrt vor uns und wir werden ein sehr langes Gespräch haben.Sind Sie wieder ausgestiegen?Nein, ich habe gesagt, dass er recht hat. Es wird eine lange Fahrt, aber ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen stellen. Was sind die drei Dinge, die Sie glücklich machen? Meine Frau, meine Kinder, mein Hund, sagte der Taxifahrer. Und was sind die drei Dinge, die Sie am meisten im Leben belasten? Dieser linke Journalist, der Chef der Armee und der des Obersten Gerichts, sagte er. Ich habe gesagt, all die Dinge, die Sie lieben, sind ganz nah. Sie können sie riechen, umarmen, küssen. Die Dinge, die Sie hassen, sind Nebenschauplätze, die nichts mit unserem Leben zu tun haben. Mit denen wir ein Vakuum in unseren Seelen füllen wollen. Das ist das, was ich meine: Man muss bei sich selbst bleiben, sonst geht man verloren.Wenn ich etwas schreibe, muss ich es wollen und fühlen und die Menschen kennen.Paulus Ponizak/Berliner ZeitungEinige Ihrer Geschichten sind Menschen gewidmet. Wer sind sie?Ich habe zwar keine Nachrufe für Opfer des 7. Oktober geschrieben, aber ich habe eine WhatsApp-Gruppe gegründet, und jede Woche zum Sabbat habe ich eine Geschichte in die Gruppe geschickt.Wie sind Sie auf die Geschichten gekommen?Ich habe Leute gebeten, mir ein Foto oder einen Satz zu schicken von jemandem, der betroffen war, und daraus habe ich eine Erzählung gemacht.Was waren das für Sätze?Eine Frau schrieb zum Beispiel, mein Mann ist in Gaza, er wünscht sich eine Geschichte über ein Krokodil. Sie schlug vor, dass sie einen Absatz schreibt und ich den nächsten. So geht das nicht, habe ich ihr gesagt, so kommt nichts Gutes dabei raus. Dann wird es eben nicht gut, hat sie gesagt. Und so haben wir es gemacht. Es sind keine Geschichten geworden, die künstlerisch perfekt sind. Aber sie sind ein Trost, eine Möglichkeit, im Gespräch zu bleiben.Haben Sie Feedback? Schreiben Sie uns! briefe@berliner-zeitung.de Lesen Sie mehr zum Thema KulturDebatteBerlinPolitikUkraineMitteEuropaIsrael im KriegGazaHamas

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