HomeBerlinCharlotte Gneuß schrieb als junge Westdeutsche über die DDR: „Ja darf man das?“ Charlotte Gneuß schrieb als junge Westdeutsche über die DDR: „Ja darf man das?“ Mit ihrem Roman „Gittersee“ hat sie den Sound der jungen Menschen erreicht: Charlotte Gneuß erzählte von der Jugend der DDR im Jahr 1976. Nun hat sie ein neues Projekt. Ein Gespräch in Berlin-Schöneberg.Immo von Fallois18.04.2025 15:24 UhrDie Autorin Charlotte Gneuß beim Reportergespräch in SchönebergIna Schoenenburg/OstkreuzAm Anfang steht die Frage, nicht das Thema. Ihre dunkelbraunen Augen strahlen. „Ich habe mich vor dem Beginn des Schreibens gefragt, woher meine Eltern kommen und warum sie 1989 vor der Wende in den Westen ausgewandert sind“, sagt Charlotte Gneuß und betont: „Da gab es einen Schmerzpunkt, dem ich nachspürte. Etwas, was ich noch nicht wusste.“ Wir sitzen im mondänen Café Gottlob in der Schöneberger Akazienstraße und sind schnell beim Du. Charlotte also. So einfach ist das. Sie ist ein zugewandter, freundlicher und bei allem plötzlichen Ruhm ganz bescheidener Mensch. Sie entschuldigt sich höflich, weil das Fotoshooting lange dauert. Beim „Zur-Schau-Stellen“ ist sie sich immer noch nicht sicher und wirkt zurückhaltend, gleichwohl sie seit dem Herbst 2023 doch so häufig fotografiert wurde.Ihr erstes Buch schlug positiv und heftig ein, „damit konnte ich gar nicht rechnen“. Der Roman „Gittersee“, nach einem Stadtteil in Dresden benannt, ist in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich: Die kühle und dennoch gefühlvolle Sprache, die Personen, die mit Liebe, Verrat und Lebensentwürfen ringen und ein Stasioffizier, der als eine nachdenkliche, um sein Land kämpfende Persönlichkeit glaubhaft gezeichnet wird. Das Erstaunliche in unserer gegenwärtigen Zeit des Lärms und des banalen „Schwarz-Weiß“ ist hier, dass die Personen antagonistisch, vielfältig und gerade durch die Differenzierung authentisch herüberkommen. Und das alles von einer 1992 zwölf Kilometer nördlich von Stuttgart Geborenen; Erinnerung an eine Zeit, in der es die Autorin noch gar nicht gab.Die Autorin Charlotte Gneuß und Reporter Immo von FalloisIna Schoenenburg/OstkreuzWie passt der Roman „Gittersee“ über junge Dresdner von 1976 auf die Bühne?Kultur03.11.2024Plastik oder Plaste: Ist diese Wortwahl wichtig in einem DDR-Roman?DDR17.09.2023 „1976 war in Deutschland ein Kipppunkt“ Über ihre Motive für das erste Werk sagt sie: „Ich fragte mich: Wie war es damals im einfachen Dresden, da wo meine Familie herkam?“ Charlotte hört viel von den Eltern, die Großmutter liest ihr vor. „Die Wendezeit hat mich literarisch dagegen nicht so sehr interessiert. Darüber ist bereits viel geschrieben worden.“ Man könnte auch sagen: Dies Zeit ist von Lutz Seiler, Thomas Brussig, Thomas Hettche, Monika Maron und vielen anderen auserzählt. Charlotte nippt an ihrem Cappuccino, legt das lange braune Haar zurück. Wir sitzen inzwischen draußen, weil es im Café zu laut geworden ist. „Meine Großmutter verlor in den 70er-Jahren viele Freunde, die in den Westen gingen. Das war für viele ein schweres Schicksal, dass sie zurückblieben. Diese hatten doch eine soziale Verantwortung.“ Aber warum spielt ihre Handlung ausgerechnet 1976? „Dieses Jahr war ein Kipppunkt. In der DDR die Biermann-Ausweisung, in der damaligen BRD die aufkommende RAF. Es war für meine Geschichte die richtige Zeit.“ Und sie stellt sich weitere Fragen: „Wie hätte ich damals als Jugendliche gelebt? Wie waren die Werktätigen, die in diesem System gearbeitet haben?“Nachdem sie, die gelernte Sozialarbeiterin, in Literaturmagazinen geschrieben hatte, erschien „Gittersee“ im August 2023. Wie und wo hat sie ihren ersten Roman verfassen können? „Schreiben braucht den ganzen Rückzug. In meiner WG schrieb ich, sagte viele Einladungen ab.“ Schreiben ist also auch und vor allen Dingen Entsagung. Es ist Rückzug und Askese zugleich. Ihre dazugehörende Sammelmappe nennt sie „Die große Übung“. Über die Anstrengung, einen ersten Roman zu konzipieren, sagt sie: „Die große Herausforderung war für mich, dass der Roman durch den ganzen Text die Figuren tragen muss.“Trotz „Plastik“: Charlotte Gneuß bekommt „aspekte“-LiteraturpreisBerlin13.10.2023Oft ein Tabuthema in Familien: „Es gibt ein großes Schamgefühl, über die DDR zu sprechen“Mitte18.07.2024 Vor- und Nachteile des frühen Erfolges Als das Buch im Fischer-Verlag erscheint („Ich habe einfach mein Manuskript dem Verlag geschickt“), überschlagen sich die Kritiken. Judith v. Sternburg (Frankfurter Rundschau) sieht ein mit viel Liebe ins Detail dargestelltes Teenagerleben. Katharina Herrmann vom Deutschlandradio ist angetan von der minderjährigen Hauptfigur Karin, die durch Liebeskummer (Paul flieht ohne Aussprache in den Westen) in die Fänge der Stasi gerät. Die taz nennt die Debütarbeit glaubwürdig und die FAZ lobt das Buch in höchsten Tönen. Cornelia Geißler (Berliner Zeitung) spricht vom erzählerischen Atem der jungen Erzählerin. Der Roman steht nicht nur auf der Longlist des deutschen Buchpreises, sondern erhält zahlreiche Preise. Vor allen Dingen, wichtig im Literaturbetrieb, er wird mit großer Auflage verkauft.Charlotte Gneuß ist anfangs überwältigt vom Erfolg, den sie nicht mal im Ansatz vorausgeahnt hat. „Auf der einen Seite war es wunderbar, so viele Kollegen kennenzulernen und sich auszutauschen.“ Das Jahr 2024 verlief dann wie in einem einzigen Rausch. Veranstaltungen, Lesungen, Interviews pausenlos, keine Atempause, nirgends. Charlotte wird Stadtschreiberin in Dresden, reist unentwegt. „Ich habe alles angenommen. Da musste ich schon aufpassen, mich nicht selbst zu verlieren.“ Im laufenden Jahr hat sie sich eine Auszeit vom Literaturrummel genommen. Einfach mal runterkommen. Vieles war zu viel geworden.Inzwischen wird „Gittersee“ ins Dänische, Norwegische und Spanische übersetzt, eventuell soll er Schullektüre werden. Im Berliner Ensemble brachte Leonie Rebentisch die Handlung auf die Bühne.  „Das alles ist schon krass“, sagt die Autorin und freut sich sichtlich. Sie habe sich verändert nach diesen aufregenden Zeiten. Jetzt hat sie endlich, obwohl sie an ihrem zweiten Roman schreibt, wieder Zeit für ihre Freunde. Jetzt endlich schnauft sie durch. Sie pendelt zwischen Berlin und Leipzig, dort wohnt ihr Freund, ein Kinderarzt.Und dennoch hat der schnelle Ruhm eine Kehrseite. Die große Frage, vielleicht eine dieser engen kulturellen deutschen Fokussierungen, was eigentlich Erinnerung dürfe. Und die Frage, wer eigentlich über welche Erinnerung die Deutungshoheit habe. Das dunkle Phänomen der Macht ist dem Literaturbetrieb von jeher eigen. Konkret: Was darf eigentlich Literatur und was nicht?Ihr Roman erzählt von der DDR. Dabei ist Gneuß im Westen geboren.Ina Schoenenburg/Ostkreuz Die Kehrseite des Literaturgeschäfts Ohne ihr anfängliches Wissen sammelt der renommierte Schriftsteller Ingo Schulze eine Mängelliste zusammen. Er schickt diese an die Deutsche Buchpreisjury. Hier stehen angebliche Ungenauigkeiten, die sich in dem Erstling der jungen Autorin eingeschlichen hätten. In der DDR habe man Plaste statt Plastik gesagt, man sei auch nicht in der Elbe in Dresden geschwommen. Den Begriff „lecker“ habe es auch nicht gegeben. Cornelia Geißler hat zu Recht auf diese Banalitäten hingewiesen, die der großen Wirkung des Werks keinen neuen Wert zumessen. Wie konnte ein so großer Autor wie Ingo Schulze überhaupt dazu kommen?Er wird hinterher bestätigen, dass alles überhaupt nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war, sondern lediglich seine privaten Eindrücke widerspiegeln. Aber das Thema, was Literatur soll und wer über die DDR schreiben darf, steht im Raum. Die FAZ fragt tatsächlich: „Darf sie das?“ Sie, das ist die junge Autorin, die überrascht und enttäuscht ist. Charlotte sagt, indem sie wegen der aufkommenden Kühle vor dem Café ihren schwarzen Mantel enger zieht: „Das war schmerzhaft.“ Sie schätzt Ingo Schulze sehr, den Präsidenten der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, dessen Roman „Neue Leben“ auch als ein großer Wenderoman gefeiert wurde. Und dieser hat dann auch die Größe, um Verzeihung zu bitten. Der Autorin ist daher wichtig: „Wir haben das bereinigt, er hat sich entschuldigt.“Auf einem Podium beurteilt eine Moderatorin diese Diskussion: „Wir wollen unser Geschichte bewahren.“ Charlotte stellt sehr klar: „Dieses Urteil habe ich nicht verstanden.“ Sie, die Newcomerin in diesem hart umkämpften Geschäft, spürt deutlich, dass sie sich durchsetzen muss. Der Literaturbetrieb kennt seine eigenen Gesetze. Für sie jedenfalls darf sich jeder literarisch erinnern, da gäbe es keine Grenze, da ist jeder frei.Charlotte Gneuß plant ihren nächsten Roman.Ina Schoenenburg/Ostkreuz Der zweite Roman spielt in der Gegenwart „Wäre ich zum Beispiel in Halle geboren, hätte ich vielleicht eher über das wiedervereinigte Deutschland geschrieben.“ Es sind die subjektiven Perspektiven und die eigenen drängenden Fragestellungen, die zum Thema führen. Der Verlag fragt und fordert und möchte gerne bald den zweiten Roman der jungen Autorin veröffentlichen. Und an diesem schreibt Charlotte Gneuß gerade, aber sie möchte nicht viel darüber verraten. Die Schreibenden, so viel wird klar, lassen sich ungern in laufende Arbeiten schauen. Dann aber sagt sie doch: „Sprache nutzt sich ab.“ So viel Reflexion und Einsicht. „Ich kann mich nicht ausruhen, sondern muss etwas Neues finden.“ Das Thema „Leben in der DDR ist jetzt vorbei“, das nächste Werk, so viel scheint sicher, wird sich mit der ungewissen Gegenwart beschäftigen.Und wieder steht bei diesem neuen Projekt am Anfang eine Frage. „Wie wollen wir leben in dieser unruhigen Welt? Wenn wir genau hinschauen, dann funktioniert vieles nicht mehr.“ Mit ihren neuen Figuren will sie auf die aktuellen Fragen hinweisen. Zur Frankfurter Buchmesse im Herbst wird der neue Roman noch nicht erscheinen, aber wohl kurz danach.Charlotte Gneuß, die junge, plötzlich bekannte Autorin, kann sich aber auch vorstellen, weiter im Bereich „Sozialarbeit“ zu wirken. Nur nicht abheben in so jungen Jahren. Bescheiden bleiben, trotz allem. Wir stehen auf und gehen ins Café. Dann beim Verabschieden drinnen an der Theke wünsche ich ihr frei nach John Foster Wallace: „Alles Glück.“ Sie dreht sich noch einmal um. Charlotte lächelt, nickt kurz, geht und schließt die Tür.Haben Sie Feedback? Schreiben Sie uns! briefe@berliner-zeitung.de Lesen Sie mehr zum Thema BerlinDDRRAFDresdenStuttgartFAZBRDBerlin-SchönebergIngo SchulzeLutz Seiler

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